Hinter dem Bahnhof

«Protocol, sagt mein Bruder. Bis wir durchs ganze Dorf sind, haben wir fünfund­zwanzig Häuser gezählt, acht Heustalls, eine Autoga­rascha, eine Töffga­rascha, den Bahnhof mit der Poscht, zwei Brunnen mit Jahreszahl, die Halla und die Buda vom Tat, eine Telefoncabina, den Kiosk der Mena und vier Abfall­cont­einers. Als wir angelangt sind am anderen Dorfrand, gehen wir nochmals durchs Dorf und zählen die Leute, die im Dorf wohnen. Nicht zählen dürfen wir die Marionna vom Dorfladen, die nicht im Dorf wohnt, und auch nicht den Tonimaissen, der am Bahnhof­schalter steht, aber auch nicht im Dorf wohnt. Es hat einund­vierzig oder zweiund­vierzig Einwohner. Wir wissen nicht, ob der Tini Blutt ein Mensch ist oder zwei. Das müssen wir noch heraus­finden.« Es ist ein kleiner Ort, dem Arno Camenisch nach dem Erfolgsbuch Sez Ner seine Aufmerk­samkeit zuwendet, ein kleines Dorf in einem engen Tal zwischen hohen Bergen - und doch sind der Schrau­benladen und das Coiffeur­ge­schäft, sind der Bahnhof und der Stammtisch in der Helvezia die ganze Welt, in der jeder und alles seinen Platz und seinen Namen hat. Es geht ums Zähne klopfen und um die Züge, die ein Mal die Stunde das Tal hinab­fahren, um Jasskanonen und Dorftrompeten, um die Sau vom Adolf­dall­amaria und den Eierlikör vom Dichter, um die Gross­mutter, die schief steht, und um die Särge vom Grossvater. Es ist ein Kind, das diese vertraute und zugleich seltsam schräge Welt der Erwachsenen sieht, sein direkter Blick schafft Nähe, es täuscht mit seiner Unbeküm­mertheit über die Abgründe hinweg, die sich hier auftun. Auch Camenischs zweites Buch besticht durch die Musik seiner Sprache, in der Witz und Ernst, Zartheit und Handfes­tigkeit eine Verbindung eingehen, die bleibende und berührende Bilder schafft. Atmosphärisch dicht beschreibt Arno Camenisch Verlust und Untergang auf seine ihm ganz eigene eigen­willige Art.

Andere Versionen:
CAMENISCH, Arno. Hinter dem Bahnhof. Luzern. Der gesunde Menschen­versand, 2011.

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