Das Alltagsgobjekt-Adventsalphabet

2020 ist ein langweiliger Advent: keine Weihnachtsmärkte, keine Glühweinstände, keine Weihnachtsessen. Wir freuen uns, wenn dieses Jahr vorbei ist. Nicht, dass nächstes Jahr viel besser wird. Aber vielleicht ja schon. Optimismus?

Adventszeit – boah. Wir kennen sie alle. Du auch?

Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, diese Tage so erträglich zu machen wie möglich. Und wie macht mensch sowas? Mit Literatur!

Literatur – yeah. Wir kennen sie alle. Du auch?

Also haben wir zu jedem Buchstaben im Alphabet (bis auf die anstrengenden Buchstaben, wie Ä oder Ö oder X oder Y) einen Alltagsgegenstand ausgesucht (Alltagsgegenstand ist hier relativ) und wild drauflos geschrieben (und dann nochmal durchgelesen und so weiter):

Alltagsgegenstände – wow. Wir kennen sie alle. Du auch?

Du bekommst also jeden Tag einen Text zu einem Gegenstand zu einem Buchstaben, bis hin zu Weihnachten am 24. oder Chanukka am 11. (dann hast du noch ein paar übrig für die berühmt-berüchtigte Nach-Chanukka-Zeit) oder was auch immer du feierst. Du musst auch gar nichts feiern und darfst die Texte trotzdem lesen.

Kurz: 24 tolle Texte für 24 anstrengende Tage, die dann endlich nicht mehr anstrengend sein werden!

Ein gemeinsames Projekt von Ronja Fankhauser, Marc Herter, Laura Higson, Fabienne Lehmann, Marc Niedermann, Damian Schmied, Narayana Sieber, Ines Strohmaier, M.-Lusie Tzikas und Christian Zingg im Rahmen des deutschsprachigen Basic-Ateliers am Schweizerischen Literaturinstitut.

 

1 Autoradio                 

Vom Durchbrechen der Radiofrequenzgrenze

Liebes Autoradio. Liebes markenloses Autoradio, du, wie du dich perfekt ins Armaturenbrett einfügst und mit deinem Display leuchtest, du Unterhaltungsgerät, ohne dich diese Reise nicht halb so schön wäre. Ich danke dir für die ordentliche Soundqualität, für deine vielen Einstellungen, die ich nicht verstehe, und dafür, dass ich dich auch mit Knöpfen am Lenkrad bedienen und dich in brenzligen Momenten sofort stumm stellen kann. Ich danke dir dafür, dass sich deine Lautstärke fast bis ins Unendliche erhöhen lässt, so dass ich Doja Cat auch bei 130 km/h noch ganz gut höre. Ebenfalls danke ich dir dafür, dass du mir Titel und Künstler anzeigst, damit ich nicht während der Fahrt auf meinem Handy nach Shazam zu suchen brauche, solltest du denn mal etwas spielen, das ich a) noch nicht kenne und b) mir gefällt. Von wegen Handy, liebes Autoradio: Wozu hast du eine USB-Schnittstelle, wenn du dich nicht mit meinem Handy verträgst? Was sollte das neulich, Kommunikationsfehler? Bist du etwa eifersüchtig? Trotzdem danke ich dir für deine sechs Speicherplätze, die nach fünfzig Kilometern nichts mehr bringen, weil die Frequenz der nationalen Sender ständig wechselt. Liebe Radiogesellschaft, lieber Funkturmbauer, lieber Staat oder wer auch immer dafür zuständig ist: Warum sind die Frequenzen der nationalen Radiosender nicht im ganzen Land gleich? Liebes, allerliebstes Autoradio, hab Dank dafür, dass sich dein Autofokus meldet und beim Durchbrechen der Radiofrequenzgrenze von selber zur neuen FM-Nummer springt.

Liebes Autoradio, auch danke ich dir dafür, dass du mir ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelst, wenn du mir sagst, dass nicht nur ich, sondern ganz viele andere Menschen auch im Stau stehen. Die Verkehrsmeldungen, die sich ausnahmsweise an mich richten! So oft hab ich zuhause Radio gehört und bei diesen Meldungen nichts gefühlt. Heute, jetzt ist das anders. Wichtigkeit! Ich mag es, dass ich dank dir schon weiss, dass da vorne ein umgekippter Sattelschlepper beide Spuren blockiert. Ich danke dir ferner dafür, Autoradio, dass du nun die geistreichen Gedanken von Moderatoren zu mir ins Fahrzeug bringst: Der Hinweis, dass sich das Wetter am Wochenende fürs Pilze-Sammeln und eine Wanderung eignen wird. Oder die Tipps für den Alltag, nämlich wie sich die ultradünnen, raschelnden Plastiksäckchen in der Früchte- und Gemüseabteilung im Supermarkt öffnen lassen, sollten sie denn, und das tun sie ja immer, zusammenkleben. Empörte Reaktionen aus der Hörerschaft: Solche Plastiksäcke sind umweltschädlich und schleunigst durch eine kompostierbare Alternative zu ersetzen. Was interessiert mich das? Der Sattelschlepper ist weggeräumt, ich rolle über Tomaten und Salate, die er verstreut hat. Hab ferner Dank dafür, liebes Autoradio, dass du mir anzeigst, welcher Sender was bringt – ob Pop, E-Musik oder Unterhaltung –, und ich zu etwas Passendem wechseln kann. Nick Cave. Nun Unterbruch und das dramatische Signet einer Sondersendung. Ich liebe dich dafür, Autoradio, dass du mir diese Nachricht überbringst. Ich fahre auf einen Rastplatz, um zu hupen und in diesem kleinen Hyundai eine Party zu veranstalten.

Jetzt fahre ich wieder und stelle mir die Frage, wie lange es dich in dieser Form, Autoradio, überhaupt noch gibt. Die Rede ist von DAB – DAB Plus sogar. Wofür die drei Buchstaben stehen, weiss ich nicht. Vielleicht D wie digital? Ich befürchte jedenfalls, dass sie für dich, du alte FM-Schüssel, eine ernstzunehmende Konkurrenz darstellen. DAB kennt wohl das Problem der Radiofrequenzgrenzen nicht und kann auf den Autofokus verzichten. Das wäre schön. Aber auch traurig. Für dich. Und weil wir voneinander werden Abschied nehmen müssen. Ich bin an meinem Ziel angelangt. Ich danke dir, liebes Autoradio, für die Begleitung, steige aus und vermisse dich schon jetzt.

 

2 Bialetti

Kaffeeliebe und Morgenmuffel

Das Bett ist noch kuschelig,

mein Traum halb vergangen,

durch die Jalousien zielt ein Sonnenstrahl

mir direkt ins Gesicht.

 

Mein Mund noch leicht klebrig

vom Schlaf,

sehnt sich nach dem Geschmack

vom Kaffee der Bialetti

auf dem Küchentisch.

 

Menschen im Radio reden

von Liebe und Herzerlweh.

Ach solln’s mi lassen

Mei Liebe seh i grad nur im Kaffee.

 

3 Creme

True von Spandau Ballet (on repeat)

Verwundert begutachtet Lea den Berg verbrauchter Taschentücher. «Omi, was ist denn?», fragt sie. Beschämt schaut auch Leas Grossmutter hin. Sie ist gestern eingenickt bevor sie aufgeputzt hatte und ist heute Morgen vom Klingeln der Türe aufgewacht. Normalerweise steht sie sehr früh auf, besonders wenn sie verspricht auf ihre Enkelin aufzupassen. Doch gestern war nicht normalerweise. Gestern vor einem Jahr ist Karl gestorben. Und heute vor einem Jahr hat sie es erfahren. Sie ist damals wie gewohnt halb siebe ins Wohnzimmer gelaufen, um ihn aufzufordern im Bett weiterzuschlafen. Doch als sie sich zu ihm beugte, merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hielt den Atem an, in der Hoffnung seinen gewöhnlich schweren Atem zu hören. Nichts. Sie griff nach dem Puls. Auch nichts. Schlagartig wuede ihr klar, dass Karl, ihr Karl, nicht mehr bei ihr war. Zurückgeblieben ist nur ein regloser Körper und eine noch laufende CD von Spandau Ballet. Sein Lieblingslied: True.

«Omi geht’s nicht gut, Lea», sagt ihre Omi und nimmt Lea in den Arm. «Wo macht es denn aua?», fragt Lea. Mit der flachen Hand tippt sie Lea auf die linke Brustseite: «Hier». Dann tippt sie ihr auf die Stirn «Und hier», plötzlich wird sie einen Moment starr, «Eigentlich überall mein Schatz». Lea runzelt die Stirn, bis ihre Augen plötzlich ganz gross werden: «Warte Omi, ich find sicher etwas, das hilft!». Lea verschwindet im Badezimmer und hält triumphierend eine Tube Crème in der Hand. «Das ist eine ganz besondere Crème, Omi, die macht alles wieder heil. Leg dich hin Omi, bitte, bitte, bitte!». Gehorsam legt sich Leas Grossmutter aufs Bett, schliesst die Augen und wartet. Lea kniet sich auf dem Bett neben ihre Omi hin und betupft deren Stirn mit dem Heilmittel.

Karl räuspert sich: «Paula, ich möchte dich nicht heiraten». «Wie bitte?», entgegnet sie ihm stirnrunzelnd. «Du hast schon richtig verstanden», meint er und legt die Zeitung weg. «Aber du hast mir doch versprochen, dass–», beginnt Paula immer noch verdutzt. «Ich möchte dich nicht heiraten, weil alle heiraten und deshalb…», er steht auf und hält ihr die Hand hin, «…bitte ich dich um einen Tanz. Aber nicht um irgendeinen Tanz, sondern um den Tanz des Lebens. Willst du, Paula Lea Marinelli, meine ewige Tanzpartnerin werden?» Paula schmunzelt. «Ich will», sie nimmt seine Hand. Er zieht sie vom Stuhl und beginnt sie zu drehen: «Dann lass uns tanzen, Paula», er grinst, «Und das ein Leben lang».

Lea cremt weiter das Gesicht ein. Ihre Grossmutter seufzt. Sie spürt Karls Hand, die ihr behutsam über die Wangen streift. Lea nimmt sich Zeit mit der Behandlung und wird erst fertig sein, wenn auch wirklich jede Stelle gut eingecremt ist.

«Pssst», Paula stolpert über ihre eigenen Füsse und macht einen riesigen Krach dabei, «Sei nicht so laut!». Karl kichert: «Das warst doch du». Wie zwei Ninjas, zwei ziemlich schlechte Ninjas, versuchen die beiden, so leise es geht, das Schlafzimmer zu erreichen. Gerade als sie darin verschwinden wollen, fällt ein Krug zu Boden. «Fuck», wispert sie. Kindergeschrei ist zu hören. «Mann, jetzt hast du sie geweckt», Karl verdreht die Augen und bewegt sich nun in Richtung Kinderzimmer, «Das Kindermädchen ist bestimmt auch wach geworden». Paula schaut schnell zum Sofa rüber. Keine Regung. Erleichtert darüber, dass das Kind nicht mehr weint, sonst niemand geweckt wurde und dass der Krug aus robustem, fast unzerstörbarem Material besteht, lässt sie sich ins Bett fallen. Karl taucht einige Minuten später in der Türöffnung auf: «Ich hoffe, du schläfst noch nicht.» Er legt sich neben sie hin und beginnt ihr die Hose aufzuknöpfen, um dann –

«Omi! Omi! Wieso kicherst du denn?», reisst Lea ihre Grossmutter aus ihren Gedanken. Völlig verwundert darüber, dass Lea und nicht Karl auf dem Bett sitzt, blinzelt Leas Omi zuerst einige Male, bis sie ihr dann antwortet: «Ah, nur so». Sie sitzt auf. Lachend rennt Lea ins Badezimmer und kehrt mit einem Handspiegel zurück: «Schau mal her». Jetzt muss auch ihre Omi lachen. «Lea, ich sehe ja aus wie ein Schneemann», sie kann sich vor Lachen gar nicht mehr einkriegen. «Aber ein lachender Schneemann, Omi!», meint Lea völlig entzückt von dem Ergebnis ihres Heilmittels. «Ja, da hast du wohl Recht», stimmt ihre Grossmutter ihr zu, immer noch in Gedanken bei Karl. Ihrem Karl.

 

4 Duschvorhang

Vornehmvorhangverschoben

Es schmerzte Danilo sehr, seinen Ivan leiden zu sehen. Es schmerzte Danilo besonders, wenn er zu viel getrunken hatte, so wie auch Ivan dann am meisten litt, wenn er zu viel getrunken hatte. Es war ein Samstagabend, Dezember. Am Donnerstag hatte es geschneit, doch die Temperatur war wieder angestiegen und Autos waren durch die Stadt gefahren und nun war kaum mehr Schneeschlamm übrig.

Die Stiefel der jungen Männer waren durchweicht. Sie stützten sich aneinander, Danilo führte Ivan zum Hauseingang, kurz musste er ihn loslassen, um seinen Schlüssel zu suchen. Ivan war heute besonders schwer. Nicht, weil er mehr getrunken hatte als sonst, nicht, weil ihn das Tanzen vor der Reithalle zu sehr ermüdet hatte. Er war schwer, weil sein Herz schwer war. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, spielte mit seinem Feuerzeug. „Danke, dass du heute mitgekommen bist.“ sagte Ivan. Danilo steckte seinen Schlüssel ins Schloss und sah ihn an. „Nichts lieber als das.“ Sie betraten die Wohnung, sie liessen ihre nassen Stiefel im Treppenhaus, sie fielen aus ihren Jacken in Danilos Zimmer, Ivan in Danilos Arme. So hätten sie einschlafen können, aber keiner von ihnen schlief. „Sie werden mich rausschmeissen.“ Flüsterte er. Danilo wusste, dass er von seinen Eltern sprach. „Das weisst du nicht.“

„Ich bin nichts.“ Sagte Ivan. „Ich habe versagt, sie werden mich rausschmeissen und ich werde keine Wohnung haben, weil ich mir keine Wohnung leisten kann.“ Danilo sagte nichts. Er kämpfte mit dem eigenen Schmerz darüber, wie Ivan über sich selbst sprach. „Ich habe gespart.“ Fuhr Danilo fort. „Aber das wird nicht lange reichen.“

„Du hast es dort gehasst.“ Erinnerte ihn Danilo schliesslich. „Jeden Tag hast du dort gearbeitet und jeden Abend hast du gesagt, dass du es hasst.“

„Ja.“ Sagte Ivan. „Aber ich hätte wenigstens etwas in der Tasche gehabt, eine Ausbildung, Zukunft. Ich habe nichts. Ich habe nicht studiert wie du, auch das habe ich nicht hinbekommen.“

„Glaub mir, nur weil ich fertig studiert habe, habe ich noch lange keine Zukunft.“ Danilo lachte ein müdes Lachen. Nun richtete sich Ivan auf, sein Kopf schwummrig vor Bier, doch er schaffte es, sich aufzurichten. „Ich hole Wasser“, sagte er auf dem Weg zur Küche. Danilo blieb liegen, dachte an den nächsten Tag, den traurigen Morgen, der ihnen bevorstand. Ivan kam nicht zurück. Er hatte sich in der Küche hingesetzt und starrte in sein Glas Wasser. Als sie einige Momente weg voneinander existiert hatten, schwang auch Danilo sich aus dem Bett, ging in die Küche und griff sich das Glas Wasser, das Ivan ihm auf dem Küchentisch bereitgestellt hatte. „Danke“, sagte er. „Das nächste Mal kannst du mir das Glas sogar bringen, wenn du willst.“

Ivan schmunzelte. „Liegend kann man nicht trinken, Schatz.“ Still tranken sie und Ivans Schmunzeln verfloss. „Du wirst etwas Neues finden. Etwas, das dir Freude macht. Ich verspreche es.“

„Das kannst du einfach so versprechen?“, fragte Ivan. „Woher weisst du das?“

Danilo beäugte ihn, seinen Bart, die blauen Augen. „Du bist doch Russe.“

„Naja, ich heisse Ivan, das ist alles“, sagte Ivan, der nur entfernt mit dem Heimatland seiner Grosseltern zu tun hatte. „Hm“, machte Danilo, der Ivans Antwort zwar so erwartet hatte, trotzdem passte sie nicht zu seinem Einfall, den er soeben konzipiert hatte.

„Deine Urgrossmutter war Anastasia Romanov.“

„Anastasia Romanov wurde als als Kind getötet“, erwiderte Ivan.

„Sie hat überlebt“, beschied Danilo. „Und ist in die Schweiz geflohen.“

„Das ist ein Gerücht und ein Disneyfilm“, sagte Ivan, obwohl Danilos Gedankenspiel langsam Eindruck auf ihn machte. „Du bist der letzte Tsar Russlands. Man hat es dir nie gesagt, aber ja, wenn man es weiss, ist die Ähnlichkeit nicht zu übersehen!“, fuhr Danilo fort, immer aufgeregter, wieder aufgestanden. „Mit Anastasia Romanov?“, fragte Ivan skeptisch. „Mit ihrem Vater, dem vorletzten Tsar von Russland.“

„Ich werde jetzt also einfach Tsar, was?“

„Du wirst es nicht, du bist es!“, erklärte Danilo, der leicht schwankend durch die Tür und ins Bad rannte. Einige Minuten später kehrte er mit einer grossen Kunststoffplane zurück und breitete sie ruckartig aus. „Steh auf.“ Befahl er, Ivan stand auf. „Ist das nicht dein Duschvorhang?“, fragte er dann, als ihm Danilo den Vorhang um die Schultern legte. „Das ist dein königlicher Umhang“, erklärte er mit ernstem Ton. Dann führte er Ivan in den Flur und stellte ihn gerade hin. Sanft legte er seine Hand an die Wange des neusten Tsars von Russland und küsste ihn. Der Moment kam, er verflog, Danilo betrachtete erneut sein Gesicht. „Eine Krone für den König“, sagte er und setzte ihm seine Mütze auf. Jetzt lachte Ivan. Mit königlicher Anmut breitete er den Duschvorhang hinter sich aus und präsentierte sich dem Gang entlang der Welt, denn die Welt war diese Wohnung und die Wohnung eine Zuflucht vor der Welt. Sie tanzten einen königlichen wie umständlichen Walzer, sie stolperten aus dem Duschvorhang und auf Danilos Bett. Sie hatten keine Probleme gelöst, hatten sie höchstens auf den nächsten Tag verschoben. Danilos Wohnung fehlte ein Duschvorhang und der letzte Tsar Russlands schlief friedlich in den Armen seines bürgerlichen Liebhabers.

 

5 Einkaufszettel                                               

Zwischen Cornflakesschachteln oder Stadtteilen

Ich erinnere mich genau an das Gefühl. Es fühlte sich an wie

Fallen. Fallend sitzen oder sitzend fallen.

Sitzend am Boden einer Unterführung, die

Deinen Stadtteil mit meinem verband und umgekehrt.

Die Unterführung verbindet noch immer meinen Stadtteil mit deinem

Und umgekehrt. Gestern im Schrank fand ich einen Einkaufszettel zwischen zwei Cornflakespackungen,

Für die ich keine Verwendung finde, ich finde,

Ich sollte sie verschenken. Auf dem Einkaufszettel steht:

Äpfel (du hast nie gesagt wie viele, also hatten wir zu viele oder zu wenige, wenn ich alleine einkaufen ging)

Brot (du hast nie gesagt, welches, nach einer Weile kannte ich zwar für jeden Laden die richtige Sorte, aber war aufgeschmissen, sobald sie das Sortiment änderten)

Honig

Cornflakes

Milch (ich konnte deine Milch nie trinken, ich kaufte sie trotzdem)

Pfeffer (für die Pfeffermühle)

Dein Essen habe ich bei mir, dafür bist du mir weggelaufen, Milch

Abgelaufen, Brot und die letzten paar Äpfel

Verschimmelt. Ich erinnere mich genau an das Gefühl,

Stein und Schwerkraft. Täglich, falle ich.

 

Jeden Tag, sitzend, liegend, stehend, im Supermarkt vor dem Milchregal, dabei

Müsste ich da gar nicht mehr hin. Heute ging ich an der Unterführung vorbei, die von

Deinem Stadtteil in meinen führt und umgekehrt, und ich fühlte es genau. Vorfreude auf

Das eigene Essen, auf den eigenen Einkaufszettel und da steht:

Sechs Äpfel (Braeburn)

Hafermilch

Koriander (mochtest du nie und deshalb kaufte ich ihn nie)

Spekulatiuskekse

Lavendelseife (weil ich sie vermisst habe)

Honig

Ich spüre es genau, dass ich dich verloren habe, aber

Du hast dich mir entzogen. Und umgekehrt.

Nun zähle ich die Tage bis ich wieder sitze, ohne

Zu fallen. Ich falte den Einkaufszettel und lege ihn sanft

In meine Brusttasche.

 

6 Fliegenklatsche

Fliegenklatsche!

                                               

(naughtygurl82): hey gg?

(bigdickenergydrink): ja, gg und dir?

(naughtygurl82): ja voll

(naughtygurl82): auch gut geschlafen?

(bigdickenergydrink): nein, hat aber gut angefangen

(naughtygurl82): was meinst du

(bigdickenergydrink): hab von dir geträumt

(naughtygurl82): und dann?

(bigdickenergydrink): und dann nicht mehr

(bigdickenergydrink): baby ich will dich spüren

(naughtygurl82): willst du mich so etwa verführen?

(bigdickenergydrink): ja wie sonst

(naughtygurl82): zieh dich aus sonst

(bigdickenergydrink): sonst was?

(naughtygurl82): sonst wird das nichts

(naughtygurl82): und hol die fliegenklatsche

(bigdickenergydrink): was

(bigdickenergydrink): wieso

(naughtygurl82): einfach so

(bigdickenergydrink): was soll diese kacke

(bigdickenergydrink): ich bin nich so einer

(naughtygurl82): was für einer

(bigdickenergydrink): ja halt nich so einer der so sachen tut

(naughtygurl82): nun gut, dann adieu

(bigdickenergydrink): was soll das mit der fliegenklatsche?

(bigdickenergydrink): du hast ja ne macke

(naughtygurl82): mit der hättest du mir auf den po geklatscht

(bigdickenergydrink): geile macke

(naughtygurl82): habs dir ja gesagt

(naughtygurl82): aber du hast ja gezagt

(bigdickenergydrink): hab sie

(bigdickenergydrink): was jetzt

(naughtygurl82): jetzt hetz

(naughtygurl82): mich nicht so

(bigdickenergydrink): sry lass dir zeit süsse

(naughtygurl82): schleck sie ab

(bigdickenergydrink): was

(naughtygurl82): machs

(bigdickenergydrink): ich schlecke

(naughtygurl82): fester

(naughtygurl82): schneller

(bigdickenergydrink): ich mach ja ich mach

(naughtygurl82): gut

(bigdickenergydrink): und jetzt

(naughtygurl82): jetzt bist du ein idiot der an einer fliegenklatsche geschleckt hat

(naughtygurl82): hehe spass ;)

(bigdickenergydrink): du verarscht mich

(naughtygurl82): nein hol die fernbedienung für den fernseher

(bigdickenergydrink): erst mach mal ein foto

(naughtygurl82): ich wollte sagen du machst ein foto ;)

(naughtygurl82): leg sie neben deinen dick

(bigdickenergydrink): was

(naughtygurl82): die fernbedienung neben deinen bigdick

(bigdickenergydrink): hä und dann ein foto?

(naughtygurl82): ;)

(bigdickenergydrink): warte mach mich steif

(bigdickenergydrink): sag was heisses

(naughtygurl82): wenn du ein foto machst werd ich feucht

(bigdickenergydrink): weiter

(naughtygurl82): hast du eine mokka

(bigdickenergydrink): ne was

(naughtygurl82): mokka

(naughtygurl82): eine kaffeemaschine

(bigdickenergydrink): ich hab ne french press baby

(naughtygurl82): sitz drauf

(bigdickenergydrink): was

(naughtygurl82): sitz

(naughtygurl82): drauf

(naughtygurl82): und klemm sie dir zwischen die arschbacken

(naughtygurl82): ist geil glaub mir

(bigdickenergydrink): ok warte

(bigdickenergydrink): ich glaub sie geht kaputt so

(naughtygurl82): neinnein

(bigdickenergydrink): aber is schon geil

(naughtygurl82): ok nimm nochmal die fernbedienung

(bigdickenergydrink): alles was du willst guuurl

(naughtygurl82): drück so oft auf die 5 bis du kommst

(bigdickenergydrink): jo ich bin voll müde

(naughtygurl82): musst noch das foto schicken: hasenpfote69@hotmail.com

(bigdickenergydrink): das deine mail?

naughtygurl82 ist offline.

(bigdickenergydrink): nein

(bigdickenergydrink): komm zurück hasenpfote

naughtygurl82 ist online.

(naughtygurl82): zuerst das foto

naughtygurl82 ist offline.

naughtygurl82 ist online.

(naughtygurl82): danke

(bigdickenergydrink): schon gut

(bigdickenergydrink): machts dich geil

(naughtygurl82): sehr baby

(naughtygurl82): aber bigdick is nich so big

(naughtygurl82): hab gedacht is bigger

(bigdickenergydrink): :(

(bigdickenergydrink): jetzt dein foto

naughtygurl82 ist offline.

(bigdickenergydrink): wtf

(bigdickenergydrink): du scheiss h*** ich f*** dich noch

naughtygurl82 ist online.

(naughtygurl82): :P

naughtygurl82 ist offline.

 

7 Gewürzregal

Wie das Salz

Meine Oma sagt immer: Such dir jemanden, der dein Salz ist, denn ohne Salz ist jede Speise ungenießbar.

Salz ist doch langweilig, habe ich immer gedacht.

Heute koche ich täglich und wenn ich dabei vergesse, nach dem Salzstreuer zu greifen, fällt mir im Nachhinein auf, dass eher eine Speise, ein Leben ohne Salz langweilig ist und keinesfalls das Salz selbst.

Wenn ich dann für ihn koche, weil laut meiner Omi Liebe durch den Magen geht, denke ich, dass er, dass meine Liebe so viel mehr ist als Salz. Unsere Liebe ist wie Zucker, immer dann, wenn wir so süß sind, dass Außenstehende Würgereiz bekommen könnten. Wir sind Pfeffer, der antreibt, eigenwillig, nie wieder lass ich dich dorthin zurückgehen, wo er wächst, der Pfeffer. Wir sind wie Muskatnuss im Käsefondue für die Schweizer: von Grund auf essentiell. Wie die Kräuter der Provence, wir haben Charakter. Sind wie Basilikum und Oregano auf der Pizza: Wir gehören zusammen. Wir sind Zimt auf Weihnachtsplätzchen, wie Vanille auf Vanillekipferl, etwas Besonderes. Wir sind hot wie Chili und wir sind wie diese Asia-Gewürzmischung von der Migros, hat man einmal probiert, kann man nicht mehr aufhören. Irgendwann werde ich unseren Enkeln erklären: Sucht euch jemanden, der für euch ist wie das Gewürzregal, denn ohne Gewürze ist jede Speise ungenießbar.

 

8 Havaianas                                   

Mittelmeerküstenästhetik

Sie hingen da, eingeklemmt zwischen Crocs und Adiletten, baumelten im Wind, der meerwärts zog, und lächelten mir im Sonnenlicht entgegen. Ich trat auf sie zu, schenkte auch ihnen ein Lächeln und probierte sie an. Perfekt. Das erste Paar passte. Ich bin nun wirklich kein schicksalsgläubiger Mensch, aber solche Momente lassen mich am Zufall zweifeln. Ich sah also zu meinen Füssen hinunter, sah, wie sich diese neonblauen Kunststoff-Sandaletten makellos an meine Füsse schmiegten und ihnen die Eleganz und Anmut eines Dosenöffners verliehen. Kein Wunder, konnte ich nicht anders, als dem Verkäufer einen zerknüllten, feuchten Fünfeuroschein, den ich in der Tasche meiner Badehose gefunden hatte, in die Hand zu drücken und sie gleich anzubehalten.

Als ich so der Strandpromenade entlanglief und sich langsam Blasen zwischen meinen Zehen bildeten, die sich allmählich mit Wundsekret zu füllen anfingen, zog ich bei jedem Schritt eine Grimasse, schmunzelte zufrieden und wusste: Einige Tage und offene Blasen später werden sich meine Füsse an sie gewöhnt haben, Hornhaut bilden und ich werde sie beinahe schmerzfrei tragen können. Sei es am Strand oder in der Hotelbar, der Touristenfalle oder dem Schlagerschuppen, bei Tag oder Nacht. So ging das den ganzen Sommer hindurch. Ich trug sie ohne Unterbruch und sie trugen mich, wohin ich wollte.

 

9 Ingwertee      

Eine dritte Beschäftigung

Eine Erkältung hat mich auf das Sofa gerafft. Seit Tagen liege ich hier und schaue Serien, seuche vor mich hin und verkruste langsam in meinem eigenen Schweissbad. Ab und zu inhaliere ich. Das Mass beim Rödleröl habe ich noch immer nicht gefunden. Der Dampf riecht so intensiv nach Spearmint-Kaugummi, dass er mir nach einem Atemzug die Schleimhäute verätzt und mir die Tränen in die Augen schiessen. Dann in die Küche. Ingwer und Zitrone schneiden und zusammen mit Honig in einen Krug mit heissem Wasser tun. Alle zwei Stunden. Das mache mich gesünder, sagt meine Mitbewohnerin. Ingwer und Zitrone schneiden, Honig, heisses Wasser. Ingwer, Zitrone, Honig, heisses Wasser. Es tut mir gut, sagt sie. Den Schleim in meinen Nebenhöhlen lösen, meine Kopfschmerzen lindern und mir etwas Energie zurückgeben. Ingwer, Zitrone, Honig, heisses Wasser. Das macht gar nichts. Es ist heisses Wasser mit Geschmack. Also eigentlich schmeckt es nicht mal mehr. Ich habe so oft heisses Wasser mit Ingwer, Zitrone und Honig getrunken, dass mein Geschmacksinn den Geschmack aus seinem Gedächtnis verbannt hat. Wir ertragen das nicht mehr. Heisses Wasser mit Geschmack. Ingwer, Zitrone, Honig. Es macht mich nicht gesünder, es bringt mir höchstens eine dritte Beschäftigung neben dem Schweissbaden und Inhalieren. Immerhin.

 

10 Jenga              

Grundstein

Sie spielen am Esstisch Jenga. Es riecht nach Tee. Birk zieht einen Stein aus dem Turm, sehr langsam, setzt ihn oben drauf, lehnt sich in seinen Stuhl zurück. Dann sagt er: “Du bist dran.” Nora sitzt auf der Theke in der Wohnküche und lässt die Beine baumeln. Neben ihr liegt ein Smartphone, das auf Lautsprechermodus einen Anruf tätigt, die andere Seite hat noch nicht abgenommen, das Gerät macht immer wieder einen tiefen Ton – Duuuu, Duuuu, Duuuu. Nora streckt sich, um an den Jenga-Turm zu kommen, und fängt an, vorsichtig einen der untersten Steine herauszuziehen. Das Smartphone sagt:

“ACME und Co, Muratori am Apparat, leitender Manager – was kann ich für Sie tun?”

Nora zuckt zusammen, der Turm kippt und fällt um.

Birk sagt: “Ha!”

Nora sagt: “Das zählt nicht!”

Der Manager am Telefon sagt: “Hallo? Was kann ich für Sie tun?”

Nora rutscht von der Theke und hebt das Gerät auf: “Ja, Tschuldigung. Ehm. Weber hier, Nora. Ich rufe an für Nika“, sie dreht sich zu Birk um, der schon den Jenga-Turm neu aufbaut, “Scheisse, wie heisst Nika nochmal mit Nachnamen?”

“Abramovic,” sagt Birk.

Sie wendet sich wieder dem Telefon zu: “Abravoritsch.“

“Nein”, meint Birk, und wiederholt: “Abramovic, A-bra-mo-vic.“

“Abramovic, Nika. Arbeitet bei Ihnen, an der Kasse, oder so. Ehm –“

Birk gestikuliert in Richtung des neuerbauten Jenga-Turms, er hat schon wieder den ersten Stein gezogen, “ja, jedenfalls, Nika ist krank, kommt heut nicht.”

Nora schaut über ihre Schulter zum Sofa, wo Nika unter einer Wolldecke versteckt schläft, “…und morgen wahrscheinlich auch nicht, so wie’s aussieht. Können Sie das weiterleiten, oder so?”

“Ja”, sagt der Manager und dann: “Wieso ruft Abramovic nicht selber an?”

Nora beugt sich vor und studiert den neuen Turm. “Ist krank”, sagt sie abwesend, “Hab ich doch schon gesagt.”

“So krank, dass telefonieren nicht mehr möglich ist?”, fragt der Manager.

“Weiss nicht. Ja, schon.”

“Und wer sind Sie?”

“Mitbewohnerin.”

Nora drückt mit dem Zeigefinger an den Grundsteinen herum, testet, wie fest sie sitzen. Birk schüttelt heftig den Kopf.

“Na gut”, klingt es aus dem Telefon, “und was hat Abramovic genau?”

Nora fängt vorsichtig an, einen der untersten Steine zu lösen, und sagt: “Hä? Ist das wichtig?”

“Ja. Fürs Formular”, der Turm zittert, “ausserdem wird Abramovic uns bis heute Abend ein Arztzeugnis zukommen lassen müssen. PDF-Format.”

“Es ist nur ne Erkältung!”

“Kein Arztzeugnis, keine Entschuldigung”, stellt der Manager klar, “und unentschuldigtes Fehlen ist ein Grund zur Entlassung. Artikel A3 –”

Der Randstein, an dem Nora herumschiebt, löst sich, und sie ruft: “Yes!”

Birk verschränkt die Arme, “Ach, fuck you. Grundsteine rausziehen sollte verboten sein.”

“Hallo? Sind Sie noch da? ”

“Jaja”, sagt Nora schnell, “also das Arztzeugnis, das wird schwer, weil wer geht schon nur mit einer Grippe zum Arzt?“

“Das ist nicht mein Problem.”

Birk fängt an, den Stein ganz unten links heraus zu schieben, sodass der Turm unten auf einem einzelnen Mittelstein stehen bleibt, unsicher.

“Wenn das Arztzeugnis nicht kommt –”

Der Turm wackelt.

“Dann entlassen wir Abramovic.”

Der Turm wackelt.

“Oh. Ehm, aber –“

Der Turm wackelt.

“Auf Wiederhören.”

Der Turm fällt um.

 

11 Krücken                                           

Legende (nach einer wahren Begebenheit)

Da liegt Franco nun versprengt wie ein eingestürzter Jenga-Turm. Er in der Mitte, um ihn herum der Inhalt seines zerrissenen Rucksacks, dann etwas weiter weg sein Fahrrad, die Armprothese, die Beinprothese und die Krücken, die er auf den Gepäckträger geklemmt hatte. Eine hat es sogar bis über den Mittelstreifen geschafft. Die Autos haben rundherum angehalten. Er war im Windschatten eines Fahrradkuriers in die Stadt hinuntergerast und ungebremst in ihn hineingeknallt, als dieser völlig überraschend an einer Ampel angehalten hat. Franco krallt sich eine Krücke und humpelt etwas benommen zum Randstein, wo er sich hinsetzt. Bis auf ein paar Schrammen ist er heil geblieben. Einbeinig und einarmig schaut er über das Trümmerfeld auf die andere Seite der Strasse. Der Kurier sammelt die Gliedmassen und das Fahrrad zusammen und kommt dreibeinig und dreiarmig auf ihn zu. Franco muss lachen. Der Kurier hat ganz glasige Augen. „Ich dachte, es hätte dir einen Arm und ein Bein abgerissen“, sagt er. „Das ist ja auch nicht ganz falsch“, schmunzelt Franco, während er sich wieder zusammensetzt. Der Kurier sammelt die restlichen Sachen auf der Strasse ein. Dabei entdeckt er ein vergilbtes Foto auf dem Asphalt. Es ist schlecht belichtet, aber da ist ein grosses Blumenbouqet zu sehen und der gestürzte Franco in jung mit Fahrradhelm, Renndress, rasierten Beinen und Sonnenbrille. Zusammen mit dem Portemonnaie, einem Schal und dem restlichen Kleinkram packt er das Foto in den aufgeplatzten Rucksack. Zum Schluss hebt er die zweite Krücke auf. Sie ist vollgeklebt mit Stickern. „Tour de Suisse `99“, „Cilo Velo“, „Pedal to the Medal“. Der Kurier mustert sie lange und grinst. Langsam setzt er sich neben Franco und übergibt ihm seine Sachen. „Kannst du weiterfahren?“

„Ja, ich denke schon. Weiterfahren geht immer irgendwie“, sagt Franco.

Der Kurier schüttelt den Kopf und zieht sein Quittungsbüchlein aus der Hüfttasche. Er öffnet es und hält es Franco zusammen mit einem Kugelschreiber hin. „Gibst du mir ein Autogramm?“

 

12 Laufmasche

Blutnudeln

Es ist kalt auf der Treppe vor dem Haus, auf den Steinstufen, wo sie sitzen. Gri sitzt links und raucht und sieht die Strasse hoch auf die Stelle, wo der Fahrradkurier schon vor zwanzig Minuten hätte erscheinen sollen. Gereon sitzt rechts und spielt mit einer der Laufmaschen an seiner Strumpfhose herum. Gereon denkt: Vielleicht hatte der Kurier einen Unfall und ist im Krankenhaus und unsere Nudeln liegen noch auf der Strasse und werden kalt und die Tomatensosse vermischt sich mit den Innereien des Kuriers und ich bin so hungrig, ich würd sie immer noch essen, ich würd sie auf den Knien vom Boden weglecken, die Sosse und die Nudeln, und sie würden versalzen schmecken vom Salz im Blut des Kuriers und vom Salz, das sie gestern gestreut haben gegen den Frost.

Gereon stösst Gri mit dem Knie an, bis sie sich zu ihm umdreht und fragt: “Denkst du, ich könnte an versalzenem Essen sterben?”

Gri zuckt mit Schultern, drückt die Zigarette auf der Treppenstufe aus, legt den Filter neben sich, um die Hände frei zu haben, und gebärdet: Ja-aber-du-musst-sehr-viel-Salz-essen-bis-du-daran-stirbst. Sie sieht wieder die Strasse hoch, dann denkt sie: Ich bin so hungrig, ich könnte alles essen, was könnte ich essen, ich bin so hungrig, ich würde Gereon essen, ich würde in sein Bein beissen, durch die Strumpfhose durch, die ist eh schon zerlöchert, die würde sofort reissen, so schlecht kann das ja nicht schmecken, ich könnte von drinnen Salz holen, nein, würde ich nicht, ich würde wohl keinen Menschen essen, ich esse ja nicht mal Tiere, ich müsste wohl so viel Salz aufs Fleisch tun, bis ich nur noch Salz schmecke, und daran würde ich dann vielleicht sterben. Gri hält ihre linke Faust vor sich in die Luft, so, dass der Handrücken zu ihr zeigt, und bewegt sie ein bisschen hin und her. Warum-fragst–du?

Gereon zuckt mit den Schultern. Sie sehen die Strasse hoch.

 

13 Mixer                                                                                   

Windelweich

Der Mixer erledigt im Alltag und in Sonderfällen verschiedenste Aufgaben. Je nach Aufsatz verfügt er über andere Fähigkeiten. Er kann dieses mit jenem zusammenmischen. Er kann Obst und Gemüse pürieren. Er ersetzte den Smoothie-Maker schon, bevor es diesen überhaupt gab.

Der Mixer hilft beim Backen, beim Kochen und beim Zubereiten von Getränken. Beliebt für Desserts ist besonders sein kunstvoller Eischnee.

Auch heimwerkerische Tätigkeiten kann er unterstützen, beispielsweise als Betonmischer.

Zahlreichen Verzweifelten half er überdies bei der Vernichtung von Beweismaterial. Rote Tropfen auf Wänden können auch Tomate sein.

Eine ganz spezielle Fähigkeit hebt sich jedoch von allen andern ab. Sie ist vielen Menschen bis heute ein Rätsel. Denn der Mixer schlägt nicht nur der Redensart nach windelweich. Er kann auch das Gegenteil. So wird aus Rahm plötzlich Butter. Besonders Laien ärgern sich über die Anomalie des Mixens.

 

14 Nippes                                         

Schneemannlampe
Er, mein kleiner Nachttischbegleiter, beobachtet mich mit seinen schwarzen Löcheraugen. Sich selbst spendet er Wärme durch seinen kleinen, roten Plastikschal, klassischer Stil, und seinem schwarzen Hut. Er, ein Schneemann von Klasse. Und mir spendet er Wärme, da er sein inneres Licht nach aussen trägt. Rot, lila, blau, grün. Es ist die langsamste, beruhigendste Disco der Welt. Seine Karottennase sticht männlich hervor, es ist das erste, das ich finde, wenn ich ihn im Dunklen suche. Die Knöpfe, passend zum Schal, halten seinen prallen Bauch zusammen, ein Zeichen von Reichtum und Dekadenz wie bei den alten Königen. Er war ein Weihnachtsgeschenk, doch leuchtet er mir im ganzen Jahr den Weg zum Schlafplatz. Ein schwaches, aber dennoch wichtiges Licht. Vor allem bunt. Und was wäre die Welt ohne bunt! Und bevor ich einschlafe, ergreife ich ihn an seiner weichen Kunststoffhaut und wende ihn um, um seinen Schalter zu suchen. Wie die Nase ist dieser leicht zu finden.

 

A.C.A.B.

Mein Kopfloser Polizist ist aus feinstem Hartplastik und er hat keinen Kopf, da, wo sein Kopf wäre, hätte er einen, ist ein Loch. Die Kopflosigkeit des Polizisten trägt nur zu seinem Gesamtbild bei, hätte er einen Kopf, wäre er ein normaler Polizist, und ich interessiere mich nicht für normale Polizisten, jedenfalls nicht solche mit Köpfen. Die Figur kann ihre Arme bewegen, nur an den Schultergelenken, aber an den Schultergelenken in alle Richtungen, fantastisch, und sogar auch die Beine, nur an den Hüftgelenken, so, dass sie sich hinsetzen kann mit beiden Beiden geradeaus nach vorne von sich gestreckt und mit den Armen in der Luft – sie kann auch ganz alleine stehen, ohne sich irgendwo anzulehnen, so, wie das ein echter Polizist, nicht aus Hartplastik, aus Fleisch und Blut, nie können würde, und sich bücken und die Arme im Kreis drehen, sogar einzeln. Der Polizist trägt schwarze, glänzende Schuhe, aus Hartplastik, und eine blaue Hose, aus Hartplastik, und ein blaues Hemd, aus Hartplastik, und schöne, weisse, saubere Handschuhe, wie sie ein echter Polizist, nicht aus Hartplastik, aus Fleisch und Blut, nie haben würde.

 

Der Kim-Jong-Un Salzstreuer
Kim-Jong-Un ist mein grosser Anführer. Nicht nur im echten Leben, sondern auch auf dem Weg zu geschmackvollem Essen. Wie er da steht, oben ohne mit Boxhandschuhen, seinem smarten Gesicht und den perfekt nach hinten gekämmten Haaren. Als ob er der Fadheit eine reinhauen möchte. Der Salzstreuer verkörpert nicht nur die Stärke von Kim selbst, sondern auch die Überlegenheit der grossen Nation Nordkoreas. Es ist ein Salzstreuer, der für alle da ist, egal was ihre Bedürfnisse sind. Vor dem Salzstreuer sind alle gleich, aber alle, die diesen Salzstreuer benutzen, sind doch etwas besser als alle anderen Leute. Man steigt quasi auf zu den Atommächten unter den Salzstreuerbenutzer*innnen.

 

Schatulle

Eine kleine Schmuckschatulle, handgemacht von Händen, die ich nicht kenne, nie gesehen oder berührt habe, steht nun seit einem Jahr in meinem Bücherregal. Sie ist blassblau, mit hellblauen Mustern auf der Seite und einem gemalten Pinguin obendrauf, dessen Bauch gelb-orange leuchtet, wie das verlaufene Dotter eines Spiegeleis.

Diese kleine Schmuckschatulle, gefüllt mit alten H&M-Kettenanhängern, kaputten Ohrringen und einer alten Kette – wahrscheinlich ebenfalls von H&M – , die mir mal jemand ausgeliehen hat und die ich nie mehr zurückgegeben habe. In dieser Schatulle liegen alte Schmuckleichen aus Jugendjahren, die ich nie anziehe, weil sie kaputt oder geklaut sind oder so aussehen, als hätte ich sie mit 13 gekauft.

 

Tassenanhänger

Kleine, blaue Kaffeetasse. Sie ist einfach perfekt. Am Griff ist da ein Karabiner, der es dir erlaubt, die Tasse an deinen Rucksack zu hängen. Das ermöglicht dir einen absoluten Tragekomfort deiner Tasse. Ob in der Badi, am Festival oder sogar in den Bergen, sie ist ganz leicht und verspricht dir absolute Tassentreue. Sie hilft dir sogar, dich von deiner Kaffeesucht zu befreien, denn in ihr finden nicht mehr als drei Schlucke Kaffee Platz. Und du willst ja nicht mehr als eine Tasse Kaffee auf einmal trinken! So ist das mit der Kaffeesucht. Nimmst du eine kleine blaue Kaffeetasse, wirst auch du zur Selbstheilerin. Und diese Anhängefunktion gibt dir absolutes Vertrauen. Du bist nicht sicher, ob du die Kaffeetasse eingepackt hast? Ein Griff nach hinten, ein Blick über die Schulter: Sie hängt da. Gemütlich und treu.

 

Waschbär
Auf dem Schreibtischeck liegt der kleine, gruselige Stofftierwaschbär meines Freundes, der mich beim Arbeiten beobachtet. Schon anspornend, diese tollwütigen Perlenaugen, der Stofftierwaschbär motiviert mich, schneller mit meinen To-dos durchzukommen, damit ich ihn nicht mehr sehen muss. Er achtet so gesehen auf meine Work-Life-Balance und verschafft mir mehr Freizeit. Schon praktisch, im Besitz eines so ausgewaschenen, angsteinflößenden Kuscheltiers zu sein, immerhin steigt dank ihm mein Adrenalinpegel und deshalb schlafe ich beim Schreiben nicht ein. Dieses Stofftier beobachtet mich, sieht meine Fehler und kontrolliert, was ich mache. Stofftierwaschbären sind so gesehen eine gute Investition für Vollzeit Prokrastinations-Studenten.

 

Figur
Es ist das beste Stück, dass ich besitze. Unglaublich sanft auf der Hand und majestätisch auf dem obersten Regal des Bücherregals in der Wohnzimmer-Küche. Prachtvoll, wie es seinen Rüssel über uns Menschen erhebt, während wir auf dem Weg zum Kühlschrank kurz stehenbleiben, um es zu bewundern Und dann die klitzekleinen Narben, diese Einwucherungen, die beim Drüberfahren ein Gefühl verleihen wie kein andere Nippfigur. Zum Schluss noch die Farbe: rötlich schimmerndes Braun, das den Blick gefangenhält. Einmalig.

 

Mehr

Mein Gümscheli sollte bloss eine kleine Überraschung sein für ein Kind. In der Packung, zusätzlich zum eigentlichen Inhalt, ein Supplement. Aber: Es ist mehr.


Das Metall-Lama
Das Metall-Lama ist in seiner Handlichkeit und Anmut unübertroffen. Es ist Erinnerungsträger und hübsches Aufstellding gleichermassen, verbindet Ästhetik mit emotional aufgeladenem Andenken. Warst du in Peru und hast die unglaublich süssen Lamas gesehen, ist es dir fast nicht möglich, ein solches Metall-Lama abzulehnen, wenn die alte Quechua-Dame es dir andrehen will. Du findest 20 Doller übertrieben? Ha! Dann schau dir doch diese pelzigen Dinger mal an! Wie süss sie sind! Das hältst du nicht aus. Die flauschigen Bergtiere spucken sich in dein Herzen und die alte Quechua-Dame schlägt Profit daraus.

 

15 Ofen                                   

Vielen Dank, dass Sie gestern noch vorbeigekommen sind um sich meinen Backofen anzuschauen.

Leider hat sich dann heute beim Backen meines weltberühmten Apfelkuchens ein weiterer Fehler herausgestellt. SIe wissen ja, mein weltberühmter Apfelkuchen ist mittlerweile unfehlbar, denn ich mache ihn immer gleich, immer gleich viele Äpfel, gleich geschnitten, und so weiter. Und ich habe auch schon viele verschiedene Öfen genutzt, um der Welt eine Freude zu bereiten mit meinem weltberühmten Apfelkuchen. Es ist also nicht meine Schuld, will ich damit sagen. Also möchte ich Ihnen diesen Gedanken direkt aus dem Kopf streichen, dass ich nicht im Stande bin, meinen weltberühmten Apfelkuchen so zu backen, dass er so schmeckt, wie es ein weltberühmter Apfelkuchen sollte. Also, nun, da Sie wissen, wie es um meine Backkünste steht, kann ich Ihnen ja das Problem erläutern.

Leider habe ich nun festgestellt, dass die letzten Krümelreste vom Kuchen den verbrannten Geruch verursacht haben und gar nicht das Gasfach selbst. An Ihrer Stelle würde ich meine Expertise überdenken, wenn ich mich austricksen lasse von den letzten Kekskrümeln! Sagen Sie, bekommen Sie fürs Kekskrümelinspizieren immer einen so hohen Lohn? Wenn ja, vielleicht stellen Sie mich als Kekskrümelbeobachterin ein.

Leider war der Keks samt Brief, also, das Gebäck, das Sie da vorfanden, in dem Ofen, das sah zwar aus wie eine nette Geste und war beinahe so gemeint, aber… der Keks war nicht für Sie gedacht.

Leider habe ich vergessen, Ihnen mitzuteilen, dass Sie den Backofen nicht mit blossen Händen anfassen sollten. Es tut mir auch leid, dass aus meinem Wasserhahn nur heisses Wasser kommt, seit vor einigen Tagen die Erde leicht gebebt hat. Es tut mir auch leid, habe ich in meiner Wohnung kein Gefrierfach mit Eiswürfeln drin, womit Sie ihre Hände hätten abkühlen können. Was mir auch leid tut, ist, dass mein Backofen noch immer nicht sachgemäss funktioniert.

Leider backt er immer noch, leider wird er immer noch sehr heiss, nicht nur ein bisschen, und verkohlt die Wäsche, die ich reinlege, und kocht das Waschmittel auf wie Tee, den Weichspüler, backt die Waschtabs wie Küchlein, statt sie aufzulösen, und bewegt sich auch kaum, statt meine Kleider im Kreis zu wirbeln, und obschon ich es mag, wenn meine Unterhosen morgens warm sind, und auch, wenn meine T-shirts nach Zucker riechen, und obschon ich den Waschmitteltee eigentlich gern trinke und er besser schmeckt als Kaffee und auch besser wirkt – und eigentlich mag ich es, wenn meine Socken angekohlt sind, dann sieht mensch den Schmutz schlechter – danke jedenfalls, dass Sie gestern noch vorbeigekommen sind.

Leider hab ich meinen Kopf hineingelegt und den Hahn aufgedreht. Und leider ist mein Mitbewohner, Bernhard, um 9:30 nachhause gekommen und hat das Küchenfenster geöffnet. Nun warte ich darauf, dass er nächste Woche in Urlaub fährt.

 

16 Pflanze

Pflanze abzugeben.

 

17 Quatsch                                 

Der beliebte Klassiker in fünf Variationen                                 

Dieses Rezept wurde von meinem Grossvater an meine Grossmutter an meine Urgrossmutter an meine Tante an meinen Hund (mehr zu meinem Hund auf meiner Facebook-Seite: @Live-Laugh-Love-LBake.Faceb) an mich weitergegeben, ein Familiengenerationenrezept also, und ich schätze es sehr – ich will in diesem Blogeintrag vor dem Rezept nicht zu viel verraten und nicht zu viel Zeit verschwenden, ich hoffe, ihr, liebe Bäcker*innen und Köch*innen und Follower von Live-Laugh-Love-LBake.blogspot.com, geniesst es genau so wie ich und mein Grossvater und meine Grossmutter und meine Urgrossmutter und meine Tante und mein Hund, schätzt dieses Geheimnis, was ich euch weitergebe, folgt mir auf Instagram (@Live-Laugh-Love-LBake) und vergesst nicht, dass die wichtigste Zutat in jedem Rezept immer die Liebe ist!

 

Zutaten:

200g Quasi-Quark

1 EL Alternative Fakten

2 TL Überzeugung

2,5 kg Mist

100 g Erdbeermarmelade

Ein Stoss Nasenspray

Den Quatsch – je nach Geschmack politischer Quatsch, kindlicher Quatsch, betrunkener Quatsch, freundschaftlich gemeint, aber zu weit gegangener Quatsch oder jede andere Art von Quatsch, die man findet. Am besten den aus dem Garten aus ökologischen Gründen –  auftauen, mit der Sauce vermengen, eine Stunde aufgehen lassen, im Backofen bei 180 Grad Ober- und Unterhitze backen (insofern dein Backofen noch nicht das Zeitliche gesegnet hat), abkühlen lassen, kalt servieren. Lässt sich gut einfrieren.

Quatsch ganz einfach selbst herstellen
Dazu nimmt man etwas Brot und einen Apfel und einen Hammer. Man schlägt mit dem Hammer so lange so intensiv auf das Brot und den Apfel ein, bis sich eine homogene breiige Masse daraus ergibt, der sogenannte Quatsch. Dazu ist es wichtig, eine stossresistente Unterlage zu benutzen, da der Kraftaufwand für die Zubereitung des Quatschs nicht zu unterschätzen ist.

Vegane Quatsch-Alternative
Um den Quatsch zu kochen, nimm den letzten Traum, der dir einfällt und brate ihn mit einer Zwiebel an, sie sollte stinken. Dann fügst du etwas Kokosmilch bei, einige intelligente Gedanken (Gedanken, die dir intelligent genug erschienen, um zu kochen). Füge alles zusammen. 5-10 Minuten zugedeckt köcheln lassen.

Grossmutters Quatschrezept
Man packe die Ziege an den Hörnern und Kraule ihren Bart, es sollte nämlich eine ganz spezielle Bartziege sein. Hat man keine Bartziege zur Hand, so kann man auch auf eine herkömmliche Ziege zurückgreifen und ihren Bauch kraulen. Dann schnipple man die Kräuter (aus dem Burgenland!) und stecke sie ihr in den Mund. Sie muss sie gut durchkauen. Gut! Die Hasenzähne legt man währenddessen auf die Stirn. Sie dürfen auf keinen Fall herunterfallen während des Kauens. Auf keinen Fall! Danach kann man die Ziege einige Stunden kühl stellen und sie dabei im Katzenmehl baden lassen. Das Wasser flösst man ihr danach ein und kratzt die Überreste der Kräuter zwischen den Zähnen hervor

 

18 Rasierapparat                                      

Braun
 

Braun, sein Name

Schwarz, die Farbe

Der mit scharfer Klinge

Im Badezimmerschrank

 

Wartet auf dich

Hört, wie du furzt

Und auf der Toilette

Handyspiele spielst

Wie du nach dem Zähneputzen

Deine Frau anschnauzt

 

Der dich zur Strafe

In eine Hautfalte zwickt

Wenn du dir das nächste Mal

Den Sack rasierst.

 

19 Säckli                                               

SUSI, NEEI!

ERSTER TEIL

Der Altersdurchschnitt der Menschen im folgenden Raum liegt bei 73,5 Jahren.

Manchen droht der Fall vom Stuhl zu Boden.

Gudrun schläft. Manchmal ist ein Schnarchen zu hören.

EDI: Soo, guete Aabe mitenang, hallo zäme! Schön siter aui so zahlrich erschine zu üsere jährleche Mitgliderversammlig. Super, auso würklech

Allgemeines Zurückhallosagen.

EDI: Es isch eifach immer schön, auti Gsichter zgseh! Würklech eifach super.

Soo, zersch möchti afe mau nach de Traktande frage.

SUSI (ruft): Was meinsch, Edi?!

GUDRUN zuckt.

WOLFGANG, auch WOLFI (flüstert Susi ins Ohr): Susi, schrei doch nid deräwä is Züüg ine! Dr Edi het gmeint, är düengi afe mau nach de Traktande frage.

SUSI: Aha, ja, auso jaa, i ha scho o gärn Mandle. Ah und… – nei das sägeni am beschte grad ids Plenum. Streckt den Finger in die Luft.

WOLFI (zischend): Neei, Susi, nid Mandle, Traktande!

SUSI überhört ihn.

EDI: Ja, Susi? Hesch öbbis zum Bespräche? Super, Susi.

SUSI: Ja, i ha nume wöue säge, dasi no drü Kilo i Seck abgfüut deheim am umesta ha.

Nid, dasder de plötzlech no göht ga poschte ids Konsum!

Ein Moment der Perplexität bei denen, die aktiv anwesend sind. Gudrun schnarcht.

Der gleiche Verlauf wie jedes Jahr. Missverständnisse leiten durch den Abend.

EDI entscheidet sich, den Kommentar einfach mit einem kurzen «Danke, Susi. Super, Susi.» abzuwürgen.

HERR SCHEIDEGGER streckt seinen Finger in die Luft.

EDI: Ah super, Herr Scheidegger?

HERR SCHEIDEGGER: I danke fürd Wortübergaab, wärte Herr Moser! I würd hüt gärn über die störende Hueschteafäu während de Proobe rede. I chami eifach nid konzentriere, wenn d Madame Stäubli immer so imne Hueschtekonzärt usbricht, u meischtens macht sis währendemne Piano ide Striicher, wie söume de no d Musig mitverfouge wenn eini usemääit wiene Mäidröscher?

EDI: I duemers ufschribe, danke fürd Mitteilig. Super, auso würklech super, es Orchestermitglied wosech für Pianoschtöue iisetzt. Super.

Manche lachen. Frau Stäubli bricht in einem Hustenanfall aus. Chaos. Gudrun träumt wildes Zeug und zuckt unruhig auf dem Stuhl umher. Niemand scheint sich um Gudrun kümmern zu wollen.

HERR SCHEIDEGGER: Da heimers ja grad wider, das Gehueschte stört doch um Gottswiue nid nume mi!

MARGRET: Herr Scheidegger, chönntiter äch aständig rede, wenn der weit so guet sii? Und d Frou Stäubli cha doch itz gwüss nüt derfür, wennsi so muess hueschte. Dir sit ja o nümm der Jüngscht, wenn i das itz emau so darf säge.

HERR SCHEIDEGGER: Ja, aber Margret, mir si doch es Orchester mit Klass undemne gwüsse Niveau. Da het itz e Hueschteaufau gwüss nüt zsueche. Das stört. Punkt. Und das duet sicher ihrer Giige o nid guet, die ständige füechte Ärosol ufem Houz. Punkt.

EDI: Soso, i hamers Traktandum ufgschribe, mir düe das nächär i auer Rueh bespräche.

I danke afe. Super, mini Herre.

Frau Stäubli hustet noch immer. Edith klopft ihr behutsam zur Beruhigung auf den Rücken.

EDITH (leise flüsternd): La di de nid la beirre vo däm Dummchopf, dä muess doch o eifach immer si Sänf derzue gä. Derbi geitsim doch nidmau ums Hueschte.

FRAU STÄUBLI (beruhigt sich): Jaja, i weiss.

EDITH: Dä wett eifach öbbis zsäge ha, das isches.

FRAU STÄUBLI: Nenei, Edith. Da isch no meh im Schpiu.

EDITH: Was meinsch?

MANFRED: Chöiter mau ufhöre chüschele? So öbbis. Dir sit de uflätigi Plouderzwätschgene!

EDITH UND FRAU STÄUBLI: Manfred!!!

EDI: Gits es Problem am hingere Tischändi?

FRAU STÄUBLI: Nei, Edi.

MANFRED: Mou!

EDITH: Mach nume witer, Edi. Zu Frau Stäubli: Was meinsch mit «es isch no meh im Schpiu?»

MANFRED: I hanes Problem! Und zwar mit dene zwöi Damene! So öbbis, auso!

FRAU STÄUBLI: Nimm di am Rieme, Manfred. Zu Edith: Sini Frou, Edith.

EDITH: Ja, was isch mit ihre?

FRAU STÄUBLI: Ja, äbe.

EDITH: Ja, was? I verstah grad nüt und gar nüt.

FRAU STÄUBLI: Mis Grosschind, weisch, d Namila. Die het gmeint, das wär no e flotti.

EDITH: Am Scheidegger sini Frou?

FRAU STÄUBLI: Ja. D Frou Scheidegger. Aber i darfere Hedwig säge, weisch.

EDITH: Ja, und itz isch das e flotti. Und?

FRAU STÄUBLI: Ja, und de heimer üs äbe mau troffe. Und ou es zwöits und es dritts Mau.

EDITH: Troffe? Für was de?

FRAU STÄUBLI: Jä, weisch ja säuber.

EDITH: Heiter gjasset oder was meinsch?

FRAU STÄUBLI: Edith. Homoerotischi Erfahrige dänk!

EDITH: Nei, aber itz hör uf!

FRAU STÄUBLI: Mou, u de isch äbe nächti der Herr Scheidegger plötzlech früecher vom Turnverein heichoo. Ja, und jetz heimer der Salat.

EDITH: Homoerotischi Erfahrige. Vo wo hesch dä Begriff, um Himmuswiue?

FRAU STÄUBLI: Vo der Namila. Die isch da no rächt flott ungerwägs, muesi säge.

MANFRED: Chaschs o grad ufd Traktandelischte setze, Edi. Lut sisi, lafere düesi di ganz Zyt!

Das chani nid ha, so öbbis. Scho ider Schueu sisi aube die zwöi Lütischte und Motzigschte gsi,

das chani auso versichere. So öbbis.

HERR SCHEIDEGGER: U do heimers scho wider. D Frou Stäubli isch eifach e Uflätigi! Punkt und so isches. De hueschtet si ide liisligschte Striicherstöue und wes umd Sach geit, het si der Chopf meischtens nid derbi.

MANFRED: So öbbis.

MARGRET: Auso bitte, mini Herre. Um das geits doch itz auso gwüss nid. I wett de nid der ganz Aabe i däm Ruum da verbringe, nid wahr.

HERR SCHEIDEGGER: Ja, aber Margret, du muesch o gseh, wenn eim öbbis schtört, de muesme das säge und handle!

SUSI: Ja, äbe drüü Seck hani no deheime! Nid dasder de choufit!

WOLFI: Handle, Susi, nid Mandle, gopfridli. Du söttsch o mau wider s Ohr ga spüele!

SUSI: Bi auso nächti grad gsi, sött aues i beschter Ornig si, Woufi.

WOLFI: Ja, de hesch du äuä chline angeri Ornig aus ig.

SUSI: Chasch du am Edi säge, dasi no Mandle ha deheime? I gloube, är hets ging noni ghört. Villech muess ja är mau sine Ohre ga spüele, was meinsch?

EDI: Gits süsch no Traktande, usser dass d Frou Stäubli ide Pianos lut muess hueschte und dass, äbefaus d Frou Stäubli, e luti uflätigi Laferi isch?

HERR SCHEIDEGGER: Nid nume ide Pianos, mängisch o ide Pianissimos!

MARGRET: Das isch doch e fertige Witz. D Frou Stäubli deräwä a Pranger ga schteue. Das chani auso nid verantworte. I ga, duet mer leid.

 

20 Türstopper                

DU UND ICH

STOPPER: Die Türe und ich. Da läuft was. Bei der Türe und mir. Ja, echt. Sie haut mir regelmässig auf meinen Po streichelt oder streift ihn und tut so, als ob sie es nicht beabsichtigt hätte. Wie kann tür zufällig einen Arsch streifen, das ist doch albern. Aber ich muss sagen, sie ist echt toll. Offen.

TÜR: Ich gebe zu, für meine Beziehung ist mein Charakter manchmal etwas hinderlich. Wenn ich ihm nahe bin, bin ich gleichzeitig auch immer offen für Neues, verschliesse ich mich allerdings, ist er mir so fern wie sonst nie. Er muss sich sehr oft nach meinen Schwankungen richten. Er ist eigentlich immer da für mich, ich bin es, die immer wieder geht.

STOPPER: Ich glaube, ich habe einen Selbstwertkomplex. Ich hasse mich. Ich hasse meine Figur. Völlig unförmig weiss ich nur rumzuliegen. Mein Hinterteil ist viel zu dick und der Rest zu dünn. Mein Po ist so dick, dass ich regelmässig irgendwo stecken bleibe. Und meist für mehrere Stunden.

Dann gibt es noch die anderen. Sie treten mich, bugsieren mich rum und wenn sie mich nicht mehr brauchen, werfen sie mich, wie ein Einweggebrauchsutensil, hinter die Türe in die Dunkelheit.

TÜR: Beruflich läuft es beim ihm auch gerade schlechter als bei mir. Er steht ein wenig in meinem Schatten. Also genaugenommen bin ich ja seine Vorgesetzte. Nur ganz selten wechselt das, dann ist er mir vorgesetzt. Aber wie gesagt, das ist eine Seltenheit.

STOPPER: Sie ist wirklich wirklich toll und genau das ist das Problem. Sie schüchtert mich ein. Ich mit meinen Komplexen und dann ist da jemand echt toll, da kann ich nicht umgehen mit.

TÜR: Ich gehe schwungvoll durchs Leben. Er ist zwar in der Vergangenheit auch schon mal in die Gänge gekommen, aber das hat irgendwie nichts an seiner Schwerfälligkeit geändert.

STOPPER: Manchmal werden wir intim. Dann nimmt sie mich, so richtig. Packt mich und ich muss mich ihr unterwerfen. Ich trau mich dann nichts zu machen, hab einfach noch nicht so viel Erfahrung. Denn meinesgleichen habe ich noch nie getroffen und sie ist die zweite Türe, die ich kenne. Zuvor hatte ich ein Verhältnis mit der Haustüre, aber die war unglaublich undankbar, das kann ich sagen. Manchmal war sie sogar grob. Das ganze Haus wusste, dass das keinen Sinn macht mit uns.

TÜR: Meine vorherigen Beziehungen? Die haben eigentlich meistens sehr lange gehalten. Aber bisher bin immer verlassen worden. Wenn ich ehrlich bin, wird es wohl auch dieses Mal so sein.

Ich war schon ab und zu allein. Aber die Einsamkeit hat Wunden hinterlassen. Sowohl bei mir als auch bei meinen kleinen Seitensprüngen. Gottseidank habe ich dann aber bald wieder jemand neues kennengelernt. Wie vom Himmel fallen sie meine Partner, jaja.

STOPPER: Die Türe meint regelmässig, ich sei verklemmt. Was soll ich denn tun? Sie hat ja schon Recht. Sie mit ihrer unglaublich offenen Art und ich, ein Wrack aus Gummi und Staub.

TÜR: Ich hätte gerne mal eine starke Schulter, um mich daran anzulehnen. Aber meistens bin ich dann doch immer allein, beim Anlehnen meine ich.

STOPPER: Plötzlich schenkt sie mir dann wieder Aufmerksamkeit, ich weiss wirklich nicht, was sie genau will.

TÜR: Ich hatte Partner in der Vergangenheit, die an mir zu Grunde gegangen sind. Ich habe sie echt kaputt gemacht, unabsichtlich, versteht sich.

STOPPER: Da ignoriert sie mich tagelang und dann plötzlich landen wir aufeinander.

TÜR: Ja, es ist wohl eine Beziehung der Extreme. Aber so bin ich auch sonst im Leben: Entweder ganz oder gar nicht, ja oder nein, auf oder zu.

 

21 Urne         

Gesellschaft                                                                                                           

«Hallo, bin zurück!», ruft Simone, während sie die Haustür zu und die Kopfhörer aus den Ohren zieht, um dann ihren Rucksack neben der Garderobe in die Ecke zu werfen, die Schuhe gleich daneben, und in die Küche schlurft. Ihre Mutter und ihre kleine Schwester sitzen am Küchentisch, mit ernster Miene und konzentriertem Blick, und füllen ein dunkles Pulver in eine alte, leicht verbeulte Tabakdose. Die beiden schauen nicht auf, als sich Simone mit einem Glas Apfelsaft dazu setzt. Langsam und sehr sorgfältig füllen sie das dunkle Pulver aus einer hölzernen Vase in die kleine Dose. Der Geruch von Verbranntem liegt in der Luft.

Simone nippt an ihrem Saft. «Was ist das denn?»

Die beiden schielen kurz zu ihr auf, doch ihre Blicke gleiten sofort wieder auf den kleinen Teelöffel, der normalerweise in der Zuckerdose liegt.

«Oma», sagt Simones Schwester Hannah.

Simone verschluckt sich an ihrem Getränk. Hustend wendet sie sich ab, um ihre pulverisierte Grossmutter nicht durch die Luft zu pusten. «Aha», sagt sie, nachdem sich ihre Lunge wieder beruhigt hat, und lugt in die Tabakdose. «Und was habt ihr mit Oma vor? Wollt ihr sie in Tütchen verpacken und unter der Hand an der Strassenecke verticken?»

Ihre Mutter sieht sie entsetzt an. «Natürlich nicht!»

«Na, was soll denn dann dieses Gelöffel?»

«Wir teilen Oma auf», sagt Hannah, während sie die Tabakdose hochhebt, mit der Hand die danebengegangene Asche zusammenschiebt und über die Tischkante zurück in die Dose füllt, als wären es Brotkrümel vom Abendessen. «Die grosse Urne kommt auf den Friedhof, die kleinere zu uns in den Garten.»

Simone schaut durch das Fenster neben dem Küchentisch und betrachtet den von Unkraut und um sich greifenden Ästen und Ranken bevölkerten Garten. Es gibt dort nur einen Flecken Erde, an dem sich die Spuren menschlicher Zivilisation noch ablesen lassen. «Moment mal», fragend sieht sie die beiden an. «Wo genau soll Oma denn im Garten verbuddelt werden?»

«Na im Rosenbeet.» Ihre Mutter schraubt die Dose zu.

Simone sieht sie entgeistert an. «Gleich neben Edgar, oder was?»

Die beiden zucken mit den Achseln. «Warum denn nicht? Die beiden können sich doch Gesellschaft leisten.»

«Edgar war ein Hamster, Mum. Den Oma nicht ausstehen konnte.»

Der pummelige Zwerghamster ihrer Schwester hatte seine Lebenserwartung um zwei Jahre überschritten, als er unter den Strohlagen in seinem Käfig schliesslich das Zeitliche segnete. Simones Mutter war es gewesen, die ihn ausgegraben hatte, nach dem er sein Futter zwei Tage lang nicht mehr angerührt hatte. Weil Hannah damals gerade in den Ferien war, musste seine Beisetzung für einige Tage verschoben werden.

Das erfuhr Simone allerdings erst, als sie am selben Abend im Gemüsefach im Kühlschrank nach den Champions suchte und dabei auf eine verschlossene Pappschachtel stiess.

«Was macht ein toter Edgar in unserem Gemüsefach?» Schnaubend stand Simone vor ihrer Mutter, die mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher sass.

«Irgendwo musste ich ihn doch aufbewahren, bis Hannah zurück ist.» Simone fiel nichts ein, was sie darauf hätte erwidern können. Zwei Tage später wurde Edgar dann feierlich, mit einer kleinen Lesung von Seiten ihrer Mutter und vielen Tränen ihrer Schwester im Rosenbeet verscharrt.

Simone steht auf und stellt ihr leeres Glas in die Spüle. Mit gerunzelter Stirn sieht sie ihrer Mutter und Schwester dabei zu, wie sie das Wachs einer Ikea-Kerze mit Espressogeschmack über die Öffnung der Tabakdose tropfen lassen.

«Ist Oma sowas wie eine Grabbeigabe, damit sich Edgar auch ja gut in der Nager-Unterwelt zurechtfinden kann?» Die beiden ignorieren Simones Kommentar.

«Oder wollt ihr euch einen Scherz mit zukünftigen Archäologen erlauben, wenn sie sich keinen Reim daraus machen können, warum man einen Hamster neben einer Blechdose vergräbt?»

«Simone, bitte!» Ihre Mutter sieht sie warnend an. «Das ist deine tote Grossmutter, von der du hier sprichst.»

Simone schlägt sich gegen die Stirn. «Ach ja, stimmt! Danke, dass ihr mich daran erinnert.»

Zwei Tage später wird Oma feierlich, mit einer kleinen Lesung von Seiten ihrer Mutter und vielen Tränen von Simone und Hannah im Rosenbeet verscharrt.

Zwei Tage später riecht es in der Küche immer noch nach verbranntem Espresso.

 

22 Vereinsrechnung                                   

SUSI, NEEI!

ZWEITER TEIL

Margret erhebt sich, greift nach ihrer Jacke. Raunen im Raum. Manche lachen. Manche wollen sich Margret anschliessen, stehen ebenfalls auf.

EDI: Bitte, Margret. Blib doch wenigschtens, bismer d Vereinsrächnig besproche hei.

MARGRET: D Vereinswaas?

EDI: Üsi Rächnig. Die übernimmsch du ja.

MARGRET: Edi, haut emau. Weli Rächnig übernimi?

EDI: Ja, üsi Vereinsrächnig äbe. Isch auso super vo dir, muesi säge!

HERR SCHEIDEGGER: Due jetz nid eso dubelig, Margret.

MANFRED: So öbbis, itz duetsi no so, aus wüsst si nid, um wases geit. Die isch ja schlimmer aus d Frou Stäubli. So öbbis.

EDITH: Manfred, itz la d Frou Stäubli i Fride, i bitte di!

GUDRUN schnarcht.

MARGRET: Was isch das fürne Rächnig, um Himmuswiue, Edi?

EDI: Üsi Vereinsrächnig! Margret, das hesch doch du ungerschribe!

MARGRET: Gar nüt hani ungerschribe, Edi.

EDI: Mou, vor zwöievierzg Jahr, Margret.

MARGRET: VOR ZWÖIEVIERZG JAHR??? Was söu das?

MANFRED: Muesi der üsi Statute zitiere, Margret? So öbbis. Absatz euf, Margret. «Dieser Absatz besagt, dass das jeweils langjährigste Orchestermitglied die Vereinsrechnung begleicht…»

HERR SCHEIDEGGER: «…Es sei denn, ein anderes Mitglied sollte sich freiwillig melden.» Punkt.

MANFRED: Et voilà, da heimers. Wie ufem Silbertablett serviert. So öbbis, auso.

EDITH: Das gloubi ja nid.

FRAU STÄUBLI: Unmöglech.

HERR SCHEIDEGGER: Häb der Latz, Stäubli.

EDITH: Itz wärdemer aber unsittlech!

HERR SCHEIDEGGER: Solang d Stäubli mit mire Frou unsittlech isch, muesch öbbe de grad gar nüt über mini Unsittlechkeit verlüüre!

FRAU STÄUBLI: FRITZ!!!

GUDRUN erschrickt und zuckt. Schläft weiter.

Stille.

Mehr Stille.

MARGRET: Du, Edi, aber der Manfred isch doch genau so lang derbi wi ig!

EDI: Es duet mer leid, der Manfred het geschter der Ustritt akündet. Imene super Ustrittsbrief, auso super isch dä gsii. Formatiert wie vomne Profi, super.

EDITH: Manfred!!!

MARGRET (verzweifelt): Ja, aber der Hans isch ja sogar zwöi Jahr lenger derbi aus ig!

EDI: Margret, am Hans si Stuehl isch läär, das gsehsch ja säuber. Dä ligt itze sicher scho über zwe Mönet im Komma. Wosch däm würklech no d Vereinsrächnig ufzwänge?

MARGRET stöhnt.

GUDRUN kommt in eine Schieflage, schläft jedoch weiter. Aus ihrem rechten Mundwinkel fliesst Sabber auf den Tisch. Das ästhetische Tischbild ist zerstört.

MARGRET: Jä, Edi, wie höch isch de die Vereinsrächnig?

EDI: Ja, auso, da isch d Mieti vom Singsaal für 520 Franke im Monet, de macht das 6240 Franke ufs Jahr. De heimer d Uffüehrigsrächt fürd Note vom Dvorak und vom Schumann woni ha müesse choufe, das isch füre Dvorak 140 und füre Schumann 260 Franke.

Nächär heimer müesse Profis engagiere, bider Giige d Frou Rodro, das macht usgrächnet für 12 Probe und 4 Konzärt, womer gha hei, 2400 Franke, bider Bratsche der Ueli, äbefaus 2400 Franke, denn bide Celli d Frou Madretsch, si isch a zwöine Probe verhinderet gsii, das chuunnt uf 2100 Franke. Bide Bäss heimer d Verena agschtöut, si het e höchere Abschluss aus die angere, das macht üs 3360 Franke.

MARGRET stöhnt. Beginnt leise zu weinen.

EDI: U de heimer natürlech o bide Bläser diversi Profis derbi gha, si sibe mau 3000 Franke. U de heimer das Jahr natürlech d Noteständer müesse ersetze, das si 59 Franke ufs Stück, mau vierezwänzg, de si das 1416 Franke. U wemer itze aues zämereächne chöme mer uf 39'316 Franke. Super Rächnig. Auso würklech super.

MARGRET schluchzt.

EDITH: Nei auso. Nei, da jagts mir d Bire us der Fassig, würklech auso. Nume wüu d Margret am lengschte derbi isch, mues si das jetz zahle? Heimatlant, wo simer da eigentlech?

MANFRED: So öbbis. Z Gondiswil im Bäre, wennds wotsch wüsse.

FRAU STÄUBLI: Itz häbsch afe der Latz, Manfred. E huere Schafsecku bisch.

MANFRED: Seisch grad du, du Hundsniere!

FRAU STÄUBLI: He!!

MARGRET (in Tränen aufgelöst): Itz muessi das auso würklech zahle.

HERR SCHEIDEGGER: «Es sei denn, ein anderes Mitglied sollte sich freiwilllig melden.» Punkt.

EDITH: Pff. Weisch ja säuber, dases das andere Mitglied offesichtlech nid git.

FRAU STÄUBLI: Da wärimer auso gar nid emau so sicher!

EDITH: Wosch öbbe du ar Margret ihri Rächnig übernä?

FRAU STÄUBLI: Neei, natürlech nid. Aber es git Lüt i däm Ruum, wo mit gfüllte Seck nume so umsech wärfe!

EDITH: Ouu, was fürne Idee.

MARGRET horcht. Beginnt, sich zu beruhigen.

FRAU STÄUBLI: Itz müessemer die Seck nume no mit Gäud fülle, aber mit schlächte Ohre sött das ja keis Problem sii.

Spricht nun extra laut zu Susi: Susi, gäu, du hesch deheime no, hesch gseit? Ganzi drüü Seck, hesch gmeint?

WOLFI: Wagets nid, Frou Stäubli! Was heiter eigentlech s Gfüeu?

SUSI: Wie?

WOLFI: Susi, nei! Nid härelose!

FRAU STÄUBLI: Du hesch no deheime, hesch gseit?

SUSI: Ah jo, momou, das übernime ig!! Löht das miini Ufgab lasi, das hani ja scho lang gseit! Ändlech heiters ghört!

WOLFI: Susi, neei!

GUDRUN fällt vom Stuhl.

 

23 Wickeltisch                                      

Metamorphose

Zuerst habe ich mich genervt. Über das Geschrei. Den Gestank. Immer dieselbe Litanei: «Etz ufe mitm füdli!» Stolze Eltern, die das Produkt ihres Produkts bewundern. Leistungsgesellschaft.

Und ich, ich steh bloss da und auf meinem Rücken liegt eine Packung Scheisse.

Wie schnell die Zeit vergeht. Schon kann es krabbeln. Schon steht es. Bald läuft MS Pipi in den Hafen. Bald der erste Kot auf der Brille. Stolzes Jauchzen. Es kann schon fast alleine!

Ich will mich freuen. Endlich werde ich nicht mehr gebraucht. Doch Fuck! Leistungsgesellschaft! Mir droht dasselbe Schicksal wie den Eintagswindeln.

Zum Glück rundet sich der Bauch schon wieder. Ich atme aus. Noch mindestens zwei Jahre.

Nochmals von vorn. Ein rosa Faltenhäufchen strampelt auf mir und benetzt mich mit Tränen. Die Eltern freuen sich, fast so wie beim ersten Mal. «Ufe mitm Becki!» Schon meiden sie vulgäre Sprache, denn sie gehen mit der Zeit.

Den Gestank nehm ich gelassen. An Scheisse kann man sich gewöhnen. Nur die Zeit, die mir entflieht… daran gewöhn ich mich wohl nie.

Das dritte Kind kommt. Hurra! Ich glaube, es sind Christen. Anstatt Gummis werden bloss Pampers verschlissen. «Ufe. Hebe. Und abe! Guet machsch du da!» Ich ächze.

Was war das? Ich ächze! Werde ich morsch?

Kritische Blicke. Besorgte Stimmen. Nichts gilt höher als das Kindeswohl.

Starke Hände tragen mich davon. Ich ahne schon das Höllenfeuer im Kamin.

Sanft streichen Finger nun an mir entlang, eine Säge kitzelt mich und ganz fein putzt mich die Feile. He, was machst du da, und was geschieht mit mir? Ist das Geschenkpapier? Es wird dunkel. Kerzengeruch. Blockflöte und Gesang. Plötzlich raschelt es, es zieht und reisst, ein Lichtstrahl. Ich find mich wieder unterm Weihnachtsbaum.

Bald gehen Scheine über mich hinweg. Auf mir die Ellbogen der ersten Kackperson, die jemals auf mir lag. Ich bin nun ein Tresen, der die Kinder übt im Geschäfteabwickeln. Ein Hoch auf die Leistungsgesellschaft!

Zum Glück ist die Mutter Schreinerin.

 

24 Zwillinge  

Keine grosse Sache

Mein Bruder meinte immer, ich sei ein Träumer. Wenn er das sagte, lächelte er bloss. 24 Jahre meines Lebens war er ein Alltagsgegenstand für mich. Alltag, weil er immer da war. Gegenstand, weil ich seine Anwesenheit als selbstverständlich erachtete. Er gehörte zum Inventar, war ein Häkchen auf der Check-Liste, das Yang zu meinem Ying und die Socke an meiner Leine.

Wir hatten immer zusammengewohnt. Erst in unserer Mutter, dann bei beiden Elternteilen und zuletzt ohne sie. Unsere WG richteten wir in einer gutgelegenen Altbauwohnung ein. Wobei ich das Wohnen mit ihm nie als WG-Leben empfunden hatte. Es gab keinen Putzplan, keine getrennten Kühlschrankabteile. Socken und Unterhosen waren Allgemeingut. Auch die Wohnung haben wir gemeinsam eingerichtet. Es war keine grosse Sache, wir sammelten Möbel von Verwandten und Bekannten, kauften ein neues Sofa und stellten alles auf.

Lange dachte ich, wir seien grundverschieden. Angefangen mit dem Aussehen, bis in die tieferen Teile unseres Wesens. Grundverschieden. Wirklich. Trotzdem verbrachten wir alle Jahre unseres bisherigen Lebens miteinander. Hatten dieselben Freunde, dieselben Hobbys, dieselben Abenteuer. Und nun, da ich ausgezogen bin, in eine andere Stadt, in einen anderen Kanton, träume ich den ganzen Tag. Sogar in der Nacht träume ich. Manchmal auch von meinem Bruder. Wie wir zusammen in den kleinen Park an der Limmat gingen, den wir unseren Garten nannten, weil wir sonst keinen hatten. Wie wir dort spielten, rannten, lagen, entspannten. Es waren schöne Jahre, unsere Kindheit und die Jugend. Er war der wildere von uns beiden. Der, der sich alles getraute. Der auf Bäume kletterte und auf Ästen balancierte im Waldstück oberhalb des kleinen Parks, der vor langer Zeit ein Hotelgarten war und nun von Bäumen zurückerobert worden ist. Er stieg in die alte, gewissermassen renaturierte Hotelruine, sprang von der höchsten Stelle der Brücke, die weiter stromabwärts über die Limmat führte, fand geheime Wege durch die Gärten unserer Nachbarn und wusste die Nachbarskinder zusammenzuscharen. Man kannte uns im Quartier. Die Zwillinge nannten sie uns.