Michael Stauffer übers schreiben und spielen

Lieber Michael, du leitest, das hat Tradition, das deutschsprachige Schnupperatelier am Infotag vom 22. Februar. Das offene Atelier ist für viele die erste Textbesprechung überhaupt. Kannst du dich noch an die erste Besprechung eines Texts von dir erinnern?
Ja, das war bei mir mit einem Stiftungs­leiter, der mich aufge­fordert hat, mit ihm über einen Text von mir zu sprechen, weil er mitbe­kommen hat, dass ich schreibe. Das war das erste ernsthafte Gespräch, er war damals vielleicht fünfzig und ich fünfund­zwanzig. In dem Sinn war das für mich eine Autori­täts­person, auch von der Biografie her, er war lange Schau­spiel­haus­dra­maturg, also jemand, der lesen kann und weiss, wie was funktioniert. Danach habe ich nur noch solche Leute gewählt, ich habe immer abstrakte Instanzen gesucht statt Freunde, war an der ETH bei Herrn Muschg im Schreibkurs, daran kann ich mich gut erinnern. Das nächste war dann der Open Mike im Finale mit drei Kollegen. Und danach waren es eigentlich nur noch Berufsleute, die mit mir geredet haben.

Gibt es Übungen, die du gerne im Infotag-Schreibatelier machen lässt?
Ja. Zum Beispiel: Ich klatsche in die Hände, sage ein Wort, die Teilneh­me­rInnen schreiben. Dann lasse ich eine Minute verstreichen, klatsche wieder und sage das nächste Wort. Die Worte wähle ich so aus, dass aus jeder Wortart eins kommt, dass sie sich zum Teil wiederholen, dass es zunächst nicht absehbar ist, ob es etwas geben könnte. Der Auftrag ist eigentlich nur, die Worte zu nehmen, die Unter­bre­chungen zu nehmen und gleich weiter­zu­schreiben, ohne zu denken. Das ist eine geleitete automa­tische Schrei­bübung. Am Ende vergleichen wir die Strategien, wie die Schrei­benden mit diesem Auftrag umgegangen sind. Ich habe auch schon Kopien aus meinem Tagebuch mitge­bracht, möglichst von solchen Passagen, die ich selbst auch nicht mehr lesen kann, um zu zeigen, dass es Quellen gibt, die man selbst erstellt, aber keinen Zugang mehr dazu hat, dass auch das wichtig ist und als Ausgangslage dienen kann. Manchmal zeige ich aus älteren Filmen, in denen noch viel frontal gefilmt und wenig geschnitten wurde, einen Ausschnitt, in dem man zwei bis vier Figuren sieht, stelle den Ton ab und dann ist der Auftrag: Schreibt auf was die in diesem Film da gesprochen haben. Danach hört man es sich an, was wirklich gesprochen wurde, am besten in einer Fremd­sprache, die niemand kann, und fängt dann an, darüber zu reden, wer was wann schon geahnt hat und wieso.

Gibt es Unterschiede zwischen einem Schnupperatelier und einem Atelier im Curriculum des Bachelors?
Es gibt den Unter­schied, dass die Studie­renden, wenn sie erst einmal am Litera­tur­in­stitut sind, nicht mehr ganz so unbedarft alles machen können. Wenn man will, dass sie ziellos arbeiten oder nicht schon mit einer fixen Idee operieren und sie mechanisch abarbeiten, muss man die Aufga­ben­stellung künstlich verkom­pli­zieren, damit sie nicht merken, dass es eine Spiel­auf­for­derung ist oder die Auffor­derung, die Kontrolle loszu­lassen. Es ist so: Wenn jemand schon ein bisschen geschrieben und über Texte geredet hat, braucht er länger, bis er alles wieder vergessen hat. Und das Alles-vergessen ist zentral fürs Schreiben.

Ist das Spielen für dich ein wichtiger Zugang zum Schreiben?
Wenn mein Auftrag lautet, ich soll jemandem helfen, seine ihm noch nicht bekannten Ausdrucks­formen zu finden, muss ich ihm eine spiele­rische Anleitung geben, damit derjenige etwas herstellen kann, was er noch nicht kennt. Nachher kann er oder sie dann sagen, find ich doof. Ohne das Spiel oder die Übung macht er einfach, was er schon kann. Meine Aufgabe ist es, den Studie­renden zu zeigen, was sie darüber hinaus noch machen könnten, und dann aber immer ganz schnell sagen: Du musst selber wissen, was du willst.

Spielen ist also eine Schreibstrategie?
Ja. Die Schrei­benden müssen eine Etüden- oder Spiel- oder Probephase haben. Es ist wichtig, die Erfahrung zu machen, dass nicht alles sofort einen Sinn hat und dass das auch nicht schlimm ist. Dass man aushalten kann, wenn etwas keinen Sinn macht. Hat man über spiele­rische Verhal­tens­weisen gelernt, Distanz zu nehmen, nimmt man sich weniger ernst und es wird weniger tragisch. So wie ich diesen Beruf verstehe, solle er nicht in einer grossen Tragödie enden, sondern auch mit Lust und Spiel­freude verbunden bleiben bis am Schluss. Deswegen übe ich das mit den Studie­renden gerne, mit mir selber übrigens auch.

Was für Spiele lässt du dich selbst spielen?
Ich mache viele Übungen, Etüden, Versuche, Tests. Natürlich muss man sich irgendwann für etwas entscheiden und diese Geschichte dann zu Ende führen. Wenn es mal nicht weitergeht, kann man entweder eine Pause machen oder ein Spiel und dann weiter­machen. Ich bin eher der, der dann lieber noch schnell ein Spiel macht. Wenn ich Glück habe, fällt etwas ab und wenn nicht, habe ich ein Archiv, wo nachher ganz viel Material drin ist, das irgendwann sicher passt.

Kannst du dafür ein Beispiel geben?
Im Moment sitze ich an einem Buch und es geht um zwei Brüder, der eine ist halbwegs integriert und der andere ist ein Krimi­neller. Und ich spiele die beiden, und zwar wirklich spielen, wie ein schlechter Schau­spieler. Das nehme ich auf und lasse es transkri­bieren. Dann kommt es als schrift­licher Text zu mir zurück und ich habe schon keine Ahnung mehr, dass ich das selber gesprochen habe. All die Unfälle, die dabei geschehen, wo ich rausge­fallen bin aus der Rolle, nehme ich in eine andere Textdatei hinein, das könnte mal Material für ein Hörspiel sein. Ich weiss nicht, was es wird, aber ich weiss jetzt schon, dass der Abfall von den zwei Figuren eine dritte Figur werden kann irgendwann. Das liegt da vielleicht ein Jahr oder länger, in jedem Fall habe ich es vergessen, bis ich es wieder hervornehme. Und dann ist es ein Stoff, den ich selber herge­stellt habe. Das Ziel ist in jedem Fall, sich nicht zu schnell auf etwas zu versteifen. Das ist wichtig. Pro Werk darf man ja nur etwas ganz Minimales auspro­bieren, damit überhaupt noch ein Leser, einer oder zwei, willens sind, es mitzu­machen. Du kannst nicht pro Werk zehn Spiele spielen. Das ist auch ein Problem, das viele haben, dass sie in einem Text zu viel auspro­bieren wollen. Deswegen ist es schlauer, die Dinge einzeln, quasi ausein­an­der­ge­nommen, auszu­pro­bieren.

Ist es, wenn du alles behältst, nicht kompliziert, zu entscheiden, was zum Projekt gehört, und was nicht? Verlierst du nicht die Übersicht?
Eine gewisse Verzet­telung findet bei allen statt, bei einigen ist sie sichtbar, bei anderen unsichtbar. Ich persönlich finde es angenehmer, wenn ich sehe, was passiert ist. Weil ich ja entscheiden kann, ob alles Mist oder alles gut ist. Bei mir ist alles, was kommt, gleich gut und dann muss ich es möglichst schnell verteilen. Ich arbeite aber auch immer gleich­zeitig an drei Projekten. Die sind zum Glück nicht alle im gleichen Stadium, das ginge nicht. Aber wenn eines so halb fertig ist, das andere ist im Anfang und das dritte so gut wie abgeschlossen, dann geht das gut.

Hast du noch einen Tipp, wie man sich das Studium vorbereiten kann oder was man machen kann, wenn man schreiben will, aber ein Literaturstudium nicht in Frage kommt?
1 Ruf deine Mutter an und sage ihr, du habest etwas ganz Schönes von ihr geträumt. Ab dann einfach sprechen und hinterher aufschreiben. Ruf am nächsten Tag deinen Vater an und sag auch ihm, du habest etwas ganz Schönes von ihm geträumt. Und frage ihn, ob die Mutter etwas über das Gespräch mit dir erzählt hat. Dann schreibst du alles auf. Wenn du Mutter und Vater nicht hast, nimmst du deine Geschwister. Wenn du die auch nicht hast, nimm deine Gross­mutter. Man sollte im kleinsten Umfeld anfangen, hinzu­schauen, und nicht unbedingt die Idee haben, ein weltbe­we­gendes Thema behandeln zu müssen. Wer bei sich selbst übt, genau hinzu­schauen, kann das nachher auch bei grösseren Themen.
2 Schreib eine Woche lang auf, was du alles getrunken hast. Jeden Tag. In der nächsten Woche was du gelesen hast. In der dritten Woche was du alles nicht getrunken hast und warum. Bis du dich kennst. Also: ganz banale Dinge ganz, ganz genau wahrnehmen und aufzeichnen.
3 Fremde Bücher lesen! Es muss nicht viel sein, aber zum Beispiel vier Bücher aus vier Epochen vollständig lesen und in jedem Buch 80 Sätze unter­streichen, die du super findest. Das klingt nach nicht viel, ist aber schon einiges.