Essay | Dort, wo mein Schreiben hinwill

Paulina Muck über ihr Schreiben und wo es sich hinbewegt, seit sie am Schweizerischen Literaturinstitut studiert. Ein Essay, entstanden für die Berner Kulturagenda, zum 15-jährigen Bestehen des Bachelors in Literarischem Schreiben.

Gerne, sehr gerne sogar möchte ich dem klischierten Bild einer leidenden Schriftstellerin widersprechen, denke ich und sitze rauchend am Fenster, während ich meinen dritten Kaffee trinke, weil mein Kühlschrank leer ist.

Ich frage mich oft, ob es mir schlecht gehen muss, damit meine Texte gut werden, damit sie die Tiefe bekommen, die ich von ihnen verlange. Um dorthin zu gelangen, habe ich das Gefühl, an einer Grenze kratzen zu müssen. Ich muss darauf achten, auf der Linie zu bleiben, darf nur eine Hand hinüberstrecken. Das, was auf der anderen Seite ist, streicheln, es betrachten und mir jede Falte, jedes Merkmal, jede Eigenheit genau einprägen. Ich bin schon ein paarmal hinübergefallen. Da kommst du schwer wieder raus.

Was hilft, sind Menschen. Menschen, die schon sehr lange auf ihren Grenzen balancieren und wissen, wie du nicht hinüberfällst, oder besser, wie du wieder herauskommst. Im Moment ist es meine Mentorin, Verena Rossbacher, die mir nicht nur ihren Arm entgegenreckt, sondern sich mit mir auf die Suche begibt, wo mein Schreiben hinwill. Mit einem Projekt im Kopf dachte ich immer, ich müsste alles planen, alles im vornherein wissen und Kapitel für Kapitel abarbeiten. Schreiben ist Arbeit, das ist wichtig, aber ich darf mein Schreiben auch selbst herausfinden lassen, wohin es will. Zumindest wenn ich keinen Auftrag erfüllen muss. So kommen Themen hervor, die einfach durch das Schreiben entstehen. Das ist neu, das Loslassen, und wahrscheinlich hat es viel mit Vertrauen zu tun. Das ist auch neu, seit ich hier am Literaturinstitut bin, das Vertrauen in mein Schreiben. Schreiben ist für mich etwas extrem Persönliches, wenn ich nicht gnadenlos ehrlich in meinen Texten bin, dann sind sie nicht gut. Natürlich sind meine Texte nicht alle autobiographisch, aber sie werden aus einem Gefühl heraus geboren, das in mir existiert. Sonst könnte ich die Texte nicht schreiben. Ich lerne hier, diesem Gefühl zu vertrauen und die richtigen Worte zu finden, um ihm Ausdruck zu verleihen. Ich liebe es, wenn mehr zwischen den Zeilen steht, als der eigentliche Text lang ist. Das habe ich für mich entdeckt.

Im wöchentlichen Schreibatelier geben wir uns gegenseitig regelmässig auf eine sehr achtsame Weise Feedback. Ich bin immer wieder erstaunt, was ein Text alles zeigen kann. Sehr oft kommt es vor, dass eine*r meiner Mitstudierenden Dinge in meinem Text entdeckt, die ich selbst nicht zu fassen bekam. Das ist dann ein richtiges Glücksgefühl. Wenn ein Text bei vielen Menschen etwas auslöst, das sich für mich völlig fremd anfühlt, dann hat das Geschriebene nicht funktioniert; aber wenn ich das Ausgelöste mag, dann kann ich es natürlich auch dabei belassen. Nur muss ich den Text dann anders sehen.

Faszinierend ist auch, was Zeitdruck für wunderschöne Texte entstehen lassen kann. Im besagten Atelier haben wir morgens immer fünf Minuten Zeit, einen Text zu schreiben. Inspiration geben ein Bild, eine Überschrift, die ersten Worte eines Satzes oder ähnliches. Fünf Minuten, und dann läutet Regina Dürig, die Atelierleiterin, eine winzig kleine Klangschale und jede*r hört auf zu schreiben. Ja gut, meistens schreibe ich noch hektisch einen Satz zu Ende und zwinge den Text, zum Schluss zu kommen. Aber die Texte sind gut. Sie sind es, weil sie echt sind. In fünf Minuten hast du nicht viel Zeit, deinen Text umzuwerfen, du schreibst einfach das, was schon da ist, irgendwo in deinen Zellen. Als wir zum ersten Mal eine solche Schreibübung gemacht haben, hatte ich totale Panik. Ich wollte gut sein, ich wollte zeigen, dass ich auch etwas kann. Ich war hellwach. Heute bin ich immer noch hellwach, aber es ist einfacher geworden, weil ich weiss, dass es schon laufen wird. Irgendwas bringt mein Gehirn immer hervor, und oft genug bin ich begeistert von dem, was da alles so tief drinnen schlummert. Das beruhigt.

Das Literaturinstitut verbinde ich sehr mit Freiheit. Meiner eigenen und der meines Schreibens. Ich werde nirgends reingedrückt. Ich werde eingeladen, dies und jenes auszuprobieren, überall habe ich eine Person, die hinter mir steht, und wenn es mal sein muss, darf ich mich auch anlehnen und ausruhen, bevor es weitergeht.

Natürlich habe ich auch hier Abgaben und Fristen, aber die Aufgabenstellungen sind so individuell definierbar, dass ich etwas komplett Eigenes daraus machen darf. Es sogar soll! Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich wir Studierenden alle sind, und deshalb bin ich wirklich froh, dass wir uns nicht alle zusammen in etwas zwängen müssen, das wir nicht sind. Als Menschen und als Schreibende.

Schreiben ist eine Kunstform und wie bei allen Künsten ist die Frage nach dem Erlernbaren schwer zu beantworten – ehrlich gesagt: Ich kann es nicht. Ich weiss auch noch nicht, was das Literaturinstitut in den nächsten zweieinhalb Jahren aus mir machen wird. Alles, was ich im Moment weiss, ist, dass es sich verdammt richtig anfühlt, hier zu sein. Hier lebt eine Wertschätzung allen Menschen und allen Texten gegenüber. Ich glaube, diese Wertschätzung hat viel mit der Studiengangsleitung Marie Caffari zu tun. Als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin, hat sie mich sofort in ihren Bann gezogen. Ihre Ausstrahlung. Ihre Kraft. Ihre Ruhe. Sie trifft sich jedes Semester mit allen Studierenden, um zu fragen, wie es uns geht.

Gut. Ich glaube, es geht mir gut.


Im Original findet sich Paulina Mucks Essay auf der Website der Berner Kulturagenda; hier gibt es ihn auch als PDF.

Paulina Muck studiert Literarisches Schreiben im ersten Semester am Schweizerischen Literaturinstitut (HKB). Bevor sie für ihr Studium in die Schweiz zog, arbeitete sie in einer psychiatrischen Einrichtung. Die dort gesammelten Erfahrungen dienen ihr als Inspiration für ihre Texte.

Unter dem Titel «Écrire ensemble» lädt das Schweizerische Literaturinstitut am 10. Dezember 2021 zu einem vielseitigen & mehrsprachigen Programm ein.